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Jedweder Leser von wissenschaftlichen Werken hat eine ganz bestimmte Vorstellung, worauf es bei der Vermittelung des gefoderten Wissens vorzugsweise ankomme: einige, ja nicht die wenigsten unter ihnen geben sich schon mit einer reinen Enzyklopädie zufrieden, welche keinen ferneren Zweck als nur jenen der bloßen Katalogisierung zu kennen scheint, und hat man am Ende sein steriles Wissen um die eine oder andere Terminologie bereichert, so ist dies nicht selten die einzige und wohl auch letzte Absicht gewesen. Es mag wenig sinnvoll anmuten, das humboldtsche Werk der modernen Auffassung von naturwissenschaftlichem Denken zugänglich und schmackhaft machen zu wollen, denn ebenso, wie sich der gegenwärtige Zeitgeist dem klassischen Bildungsideal in manch anderer Hinsicht verschließt, so gilt eine humboldtsche Naturbetrachtung wohl zweifelsohne schon längstens als veraltet und dem zeitgenössischen Wissenschaftler deshalb in keinster Weise mehr angemessen. Wollen wir also von jener ganz und gar unersprießlichen Form der zeitgenössischen Besserwisserei und aber jenen, welche überhaupt nur an ihren Magen zu denken Zeit finden, abstrahieren und uns vielmehr jenen anderen zuwenden, welchen an einer lebendigen Darstellung der natürlichen Verhältnisse gelegen ist und welche dem großen Forscher um dessentwillen gerne in die mannigfaltigen Erdstriche unseres Planeten zu folgen bereit sind.
Schlagen wir also denn andächtig den Deckel unseres Buches auf und folgen wir dem klassischen Wissenschaftler nach den Gestaden ferner Küsten, in das Dickicht tropischer Wälder oder auf die schneebekränzten Häupter der Anden. In der kraftvollen, poetischen Sprache des Dichters versteht es Alexander von Humboldt vortrefflich, seinen Leser an der Welt des Entdeckers und Forschungsreisenden teilhaben zu lassen; in Humboldt wirkt die ganze, synthetische Kraft des Genies, welches die Gesamtheit der natürlichen Erscheinungen als eine ewige Emanation aus dem unveränderlichen, vollkommenen und göttlichen Einen begreift. Durch diesen gleichsam transzendentalen Actus erhält die Natur jenes eigentümliche Wesen, das man wiederholt mit jenem Begriffe der „Seele“ verglichen hat und wodurch dieselbe Natur mithin als organisch, als beseelt also, vorgestellt wird. Fast allen modernen, naturwissenschaftlichen Schriften fehlt diese Eigenart, und deshalb darf es kaum verwundern, daß der gesamte Naturkörper allgemach nur als ein anorganischer, weil unbeseelter Gegenstand vorgestellt wird und deshalb auch kaum neue Erkenntnisse aus demselben gewonnen werden – ausgenommen meinetwegen Erkenntisse aus Vivisektionen oder Versuchen zu nicht nur völlig überflüssigen, sondern auch gänzlich amoralischen Zwecken, wie sie dergleichen etwa auf dem Sektor des „Clonens“ höchst erfolgreich getätigt werden; eine absonderliche Weisheit der letzteren Art schien auch jener unlängst im Fernsehen demonstrierte „Versuch“ zu sein, wonach man nach wiederholten Experimenten mit Alkohol an Ratten das Ei des Kolumbus gefunden zu haben glaubte, indem man verkündete: es sei nunmehr eindeutig erwiesen, daß die Abhängigkeit von Alkohol bei Ratten in demselben Ausmaße zunehme, je früher man denselben ihnen verabreiche. Dieser Schluß ließe sich in seiner ganzen, umfassenden Analogie auch durchaus auf den Menschen applizieren; man habe demnach einen eindeutigen Beweis erbracht, daß der Mensch, je früher er Alkohol zu trinken anfange, je gefährderter wäre, in ein Verhältnis der Abhängigkeit zu geraten. Derselbe Versuch, den ich eigentlich zunächst gar nicht zu schildern irgend die Absicht hatte und welcher ohnedies nur ein beklemmendes Gefühl der Peinlichkeit erregt, spiegelt indessen den ganzen, fatalen Zustand der modernen Naturwissenschaften in teleologischer Hinsicht wieder! Kehren wir also nach diesem lächerlichen Exkurs in die Gefilde der heutigen Naturwissenschaft wieder zu unserem „alten“ Alexander von Humboldt zurück und begeben wir uns mit ihm in die grünen Zauberhallen des südamerikanischen Urwaldes.
In den Jahren 1799-1804 durchforschte Humboldt auf einer fünfjährigen Reise mit dem französischen Botaniker Bonpland verschiedene Gegenden des südamerikanischen Kontinents, die seinerzeit noch kaum jemals ein Europäer betreten hatte. Auf schwankem Nachen kämpften sich die beiden Wissenschaftler, in Begleitung von mehreren eingeborenen Trägern und Führern, die mäanderartigen Flußläufe des Orinoco hinauf. Bisweilen gerieten sie dabei an Stromschnellen oder Wasserfälle, welche sie nötigten, das Gepäck sowie ihre Boote über Land zu einem höher gelegenen Teil des Flusses zu transportieren. Krokodile, Insekten und allerlei anderes wildes Getier machten diese Reise im Dienste der Wissenschaft zu einem waghalsigen Unternehmen, das nicht nur höchste körperliche, sondern auch allerhöchste psychische Ansprüche an die Beteiligten stellte; neben den erwähnten, höchst beschwerlichen Umständen mußte überdies noch Zeit für die umfangreichen, wissenschaftlichen Studien bleiben, welche nicht allein sowohl geologische, botanische, geographische, zoologische, klimatologische, orographische usw., sondern sogar Untersuchungen anthropologischer Art umfaßten. Auf diese Weise gelang es den beiden Forschern nach unsäglichen Mühen, die Gegenden längs des Orinoco zu erforschen sowie dessen exakten Verlauf zu bestimmen. Ihre weitere Fahrt führte sie über die Hochebenen Venezuelas und Columbiens bis nach Ecuador, wo sich in den dortigen Kordilleren eine der damals höchsten bekannten Erhebungen, der vergletscherte Vulkankegel des 6267 Meter hohen Chimborazo, erhebt. Die beiden Wissenschaftler, Bonpland und Humboldt, gelangten bei dieser Gelegenheit im Zuge ihrer Studien bis in eine Höhe von 18096 Pariser Fuß, einer Höhe, welcher heute ohngefähr 5900 Meter entsprechen – eine höchst beachtliche Leistung, wie der Verfasser des nämlichen Aufsatzes jederzeit zu bestätigen bereit ist, denn auch derselbige ist bei einer Wanderung durch das Hochland von Nepal in ähnlich hoch gelegene Regionen vorgedrungen und weiß deshalb aus eigener Erfahrung vom bei derartigen Höhen auftretenden Sauerstoffmangel und den damit verbundenen Mühen zu erzählen, welche daselbst jeder einzelne Schritt verursacht. In den wissenschaftlichen Anmerkungen wird in demselben Zusammenhang auch von allerlei Pflanzen- und Tierbeobachtungen berichtet. Überhaupt sind die Berichte Humboldts voll von lebendigen Schilderungen der jeweiligen Tier- und Pflanzenwelt; da sehen wir den gefleckten Jaguar durch die Wälder des Amazonas streifen. Affen turnen und kreischen im Geäste der Urwaldriesen umher, kleine Colibris und bunte Papageienvögel schwirren allenthalben durch die Lüfte und erfüllen den Äther mit der mannigfaltigen Syrinx ihrer jauchzenden Kehlen – und während die Nacht mit ihren zahllosen, funkelnden Gestirnen den südlichen Himmel erhellt und unzählige, leuchtende Tierchen eine märchenhaft phosphoreszierende Helle um die rauschenden Meereswogen weben – dann erwachen auch die nächtlichen Stimmen des Urwaldes in ihrem ganzen, unaussprechlichen Reiz. Und auf den majestätischen, schneebedeckten Häuptern der Anden mag der Wanderer wohl in einer glücklichen Stunde dem mächtigen Condor
[1] begegnen, jenem gewaltigen Greif, der seine einsamen Kreise über den längst zerfallenen Kultstätten der Inkas zieht.
Selbstverständlich begegnen wir in dem Buche auch allerlei wissenschaftlichen Terminologien und Begriffen, welche insonderheit zu erwähnen ich hier nicht für notwendig erachte; der interessierte Naturwissenschaftler wird ohnedies nicht umhinkönnen, sich zumindest einen Überblick über die bedeutendsten derselben zu verschaffen. Tatsächlich gewährt erst die innige Bekanntschaft mit den organischen wie anorganischen Substanzen unserer Natur, deren Verhalten, Eigenschaften und Bestimmung die rechte Ergötzlichkeit in der Beschäftigung mit jenen mannigfaltigsten Gegenständen, welche uns die Natur in Fülle darbeut; wie denn jede Auseinandersetzung, es sei, was immer es wolle, uns erst die rechte Befriedigung verschafft, wenn wir im vertrauten Verhältnisse mit jenem Gegenstande leben, mit dem uns zu beschäftigen wir die Absicht haben.
Doch nicht nur allein im Zustande stiller Betrachtung wird uns die Natur vor Augen geführt: wir erleben sie auch unheilvoll, zerstörerisch, in ihrer ganzen, erschreckenden Wildheit, da etwa der schlummernde Vulkan von neuem zu tätigem Leben erwacht und das Urfeuer, im Innern der Erde lodernd, über fruchtbare Fluren und Äcker ergeußt; wie die gewaltigen Ströme, wie der unendliche Ozean ihre zerstörende Flut entsenden und das Hab und Gut des braven Landmanns verschlingen; wie der wilde Pardel, jene ungeheure Katz‘, aus der nahen Dickung hervorbricht, die flüchtige Antilope in geducktem Sprung erhaschend, sein Opfer mit blutiger, unbarmherziger Pranke zu Boden fällend; wie sie, die Natur, in ihrer ganzen, unbändigen Wildheit belauscht, uns ihr innerstes Wesen gleichsam offenbart und beinahe beschämt, auf eine Weise, als habe man derselben ihr sorglich behütetes Geheimnis entrissen, im allernächsten Augenblicke wieder ihren Mantel der Versöhnung und des Schweigens über jene wilde, ungezügelte Macht der Zerstörung zu breiten weiß, um uns allsogleich ihre ewig erneuernden und schaffenden Kräfte zu weisen, welche nach jenen fürchterlichen Augenblicken der Vernichtung unverzüglich wieder ihr schüchternes und stilles Geschäft des unermüdlichen Schaffens ins Werk setzen. Auf diese Weise ist die ganze Natur von der ewigen Kausalität des Werdens und Vergehens gleichsam durchdrungen.
Allein Pflanze und Tier bleiben mitnichten unsere einzigen Wegbegleiter: auch den Menschen lernen wir kennen, jenen Menschen, der, fernab unserer europäischen Zivilisation, in den undurchdringlichen Wäldern des Amazonas, auf den kahlen Hochebenen der Llanos
[2] sein kärgliches Leben fristet. Wir erfahren mancherlei interessante Dinge über seine Kultur, seine Religion, über die Geschichte dieses Menschen, welcher, einstmals unberührt von den zerstörenden Händen der Zivilisation, seine eigene Hochkultur sich schuf, ehe die grausamen, spanischen Konquistadoren auf ihren Karavellen über das Meer geschifft kamen, und, getrieben von der Gier nach Gold, es während der Jahre 1531-1533 unter Francisco Pizarro verstanden, diese jahrhundertealte Hochkultur binnen weniger Jahre einer vollständigen Vernichtung anheimzugeben. Meisterlich und voll gläubiger, philanthropischer Gesinnung sucht Alexander von Humboldt in seinem unvergleichlichen Werk den Menschen, inmitten seines Webens und Ringens mit der ihn umgebenden, oftmals feindseligen Natur, in eine beständige, fühlbare Beziehung zu einer höheren Ordnung zu führen; aus jedem seiner trefflichen Worte bricht die Überzeugung von jenem göttlichen Wesen, welches der Natur obwaltet, mit geradezu pantheistischer Begeisterung hervor. So begreift Humboldt die Natur nur in ihrer historischen Verknüpfung und Entwickelung innerhalb der Erdgeschichte: wenn er etwa beginnt, das Entstehen gewisser Erscheinungen und Phänomene innerhalb der Natur aus geognostischer Sicht zu erhellen, er Relikte der heutigen Fauna und Flora phylogenetisch von Epochen zu deduzieren weiß, in welchen der Hominide noch längst im Schoße jener Erde schlummerte, aus der er einst entstehen sollte – da greift manchereinen wohl ein ehrfürchtiger Schauder ans Herz, wenn wir uns – wir Menschen, gerade einmal wenige Millionen Jahre alt, einem Weltalter von mehreren Milliarden Jahren gegenübersehen – und vernünftig tut der Mensch daran, stumm und bescheiden in den Hintergrund zurückzutreten und sich seiner eigenen Nichtigkeit in diesem wundertätigen Wirken und Zusammenspiel der kosmischen Naturkräfte zu besinnen. So hat auch der große Naturforscher Humboldt stets ein Gefühl der ehrfürchtigsten Demut verspürt, sooft er unter einem fremden Himmelsstrich, beim flackernden Schein des Lagerfeuers die Resultate seiner Forschungen in einem Büchlein sammelnd, zuweilen emporblickte zu den Gestirnen, die stumm und schweigend ihre ewigen Bahnen ziehen, und von neuem zu jener einfachen Erkenntnis gelangte, daß der Mensch nur Gast ist hienieden auf Erden; allein im panharmonischen Einklang mit der Natur vermag der Mensch auf Dauer zu bestehen, denn sowie er sich wider die Natur zu richten beginnt, so wendet er sich in gleicher Weise auch wider sich selbst.
„Überall“, so schreibt der unvergessene Humboldt in seiner Vorrede zum nämlichen Buche, „habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt. Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet. Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andeskette. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor: 


Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
    
 

 

[1] Der Condor (vultur gryphus) aus der Familie der Geier (vultures) gilt als der größte flugfähige Vogel der Welt. Die größten, beobachteten Individuen dieser Art erreichten Humboldt zufolge die unglaubliche Spannweite von 14 Fuß, welches etwa viereinhalb! Metern entspricht. Auch ist die Höhe, in welcher sich ein Condor bewegen kann, durchaus erstaunlich: demnach soll er schon in einer Höhe von 21834 Fuß, einer Höhe also von über 7000 Metern, gesichtet worden sein. Damit dies möglich wird, verfügt der Condor über membranöse Luftsäcke, die er in tieferen Regionen auffüllt, um einer Sauerstoffinsuffizienz vorzubeugen.      

[2] Unter Llanos versteht man die artenarmen Hochebenen des tropischen bzw. subtropischen Amerikas. Jene aus verschiedenem Gesteinsmaterial bestehenden Ebenen werden nur von einer spärlichen Vegetation aus Gräsern und Gesträuchen bedeckt. Neben dem allgemeinen West-Ost-Gefällen weisen sie überdies zuweilen eine erstaunliche Söhligkeit auf, welche darauf schließen läßt, daß Teile der heutigen Llanos ehemals vom Meer überflutet waren.



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