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Wenig Schmeichelhaftes haben uns die literarischen Produktionen des vergangenen Säkulums im allgemeinen, wenig Ersprießliches jene der lyrischen Gattung im besonderen beschert; weniges, was die lyrische Dichtkunst in diesem Zeitraum hervorgebracht hat, ist auch wirklich des Bewahrens wert. Nicht nur, daß in jenen Jahren einer „poetischen Aufklärung“ ohnegleichen der rechte Begriff für Ästhetik und Inhalte ab Handen gekommen – unseren modernen Autoren fehlt es überdies allenthalben an einer festen Grundlage in Form einer normativen Poetik, welche zuallernächst sich mit dem theoretischen Gebrauche in der lyrischen Gattung befaßt.
Es erscheint einleuchtend, wenn wir behaupten, daß jener, der an sich selbst den Anspruch erheben will, als Lyriker von Rang zu gelten, sich zunächst einmal mit den mannigfaltigsten Stilmitteln vertraut zu machen hat, die ihm daselbst zu Gebote stehen; fängt doch auch der Handwerker mitnichten aufs Geratewohl an, etwa einen Stuhl oder einen Tisch zu fertigen, ehe er die rechten Maßverhältnisse studiert und mit der Tauglichkeit und Eignung des Stoffes vertraulich geworden, den er nun bearbeiten soll. Was jenes unverzichtbare Wissen für den Handwerker, ist das Wissen um die Gesetze der Metrik für den Schreiber von Gedichten: nicht wird ein rechtes Gedicht entstehen, so jemand nicht weiß um die Qualität und Quantität der Silben, nicht weiß um das Wesen des Verses, woraus jener besteht und welche Arten des Verses es namentlich zu unterscheiden gilt. Mit sicherem Instinkt weiß der Dichter jene Mittel zu gebrauchen und macht sie seinen jeweiligen Absichten dienstbar. Freilich gibt es zuweilen Dichter, welchen die seltne Naturgabe eigen ist, das rechte Maß zu treffen und die gleichsam intuitiv dem metrischen Gesetze Genüge tun, ohne dasselbe eben recht zu kennen; gleichwohl wird ein solcher nachgerade bestrebt sein, seinen natürlichen Instinkt durch die theoretische Kenntnis jener Gesetze gleichsam zu befestigen, und das ist eigentlich die rechte Art, sich mit dem, was wir als die normative Poetik bezeichnen, bekanntzumachen.
Allein es mag selten einen Dichter geben, der zunächst die theoretischen Grundlagen studiert, ehe er sich an die Verfassung eines Gedichtes macht: die wahre Dichtergabe ist ein Talent, das sich allen rationalen Momenten entzieht und das eben schon frühzeitig in der Kenntnis von Werken berühmter und bekannter Dichter seine Bestätigung und Kräftigung findet. So wird ein solcher etwa schon früh die Gedichte und Balladen berühmter Meister studiert haben, und aus diesem Impetus heraus gleichsam das Verlangen entstehen, Ähnliches zu schaffen. So steht am Anfang gleichsam der poeta imitans, also jener, der durch das ihm gegebene Beispiel den Impuls zum schöpferischen Actus empfängt. So entstehen gleichsam ex conatu – aus dem Versuch – die ersten Gedichte, welche in ihrer Art Nachahmungen der lyrischen Vorbilder sind – aber eben nicht ausschließlich Nachahmungen. Die rechte Kunst in der lyrischen Gattung wird ungeachtet aller ars imitandi stets bestrebt sein, den selbstgewählten Gegenstand ihres Inhaltes und die selbstgewählte Versart darzustellen, so zwar, daß sie unverkennbar das große Vorbild reflektiert, aber gleichwohl den freien Willen des Dichters bezeichnet, welcher die vorgegebenen Formen der normativen Poetik lediglich als die unwandelbaren Gesetze beobachtet, innerhalb derer die lyrische Kunst sich bewegen muß und die sie nicht überschreiten darf; geschieht nämlich dergleichen, so wird die Kunst gleichsam ursurpiert, da sie kein höchstes Gesetz mehr anerkennt, das sie bindet – weshalb ja die lyrische Gattung auch die „gebundene Sprache oder Rede“ meint.
Aus dieser Verstiegenheit heraus, die Willkür (im Unterschied zum freien Willen, der sich diesem obersten Gesetze „freiwillig“ unterwirft) des Dichters als das allein bestimmende Prinzip zu betrachten, ist man zu der vollendeten Absurdität gelangt, den Begriff eines „Prosagedichtes“ oder „prosaischen Gedichtes“ zu konstituieren, was recht eigentlich ein Widerspruch per se ist: verstehen wir nämlich mit der „gebundenen Sprache“ die Lyrik und mit der „ungebundenen Sprache“ das narrative, erzählerische Moment, welches wir unter den Begriff der Epik subsumiert haben und das die neuere Zeit im allgemeinen unter dem Begriffe der „Prosa“ kennt, so wird sehr schnell klar, daß es ein „Prosagedicht“ im eigentlichen Sinne nicht wohl geben könne: denn entweder es handelt sich um Prosa, und dann ist es ein ganz gewöhnlicher, ungebundener Text, der keinen normativen Gesetzen unterliegt; oder aber es ist ein Gedicht, und dann gehört es mit all seinen charakteristischen Merkmalen und Kennzeichen zur lyrischen Gattung, deren oberstes Principium eben in ihrer Unterordnung unter die metrischen Gesetze und damit ihrer Zugehörigkeit zur Kategorie der gebundenen Sprache besteht. Nur durch die Schaffung eines so nebulösen Begriffes, wie es jener des Prosagedichtes vorstellt, konnte die lyrische Gattung recht eigentlich usurpiert werden: unter seinem Begriffe war es nun plötzlich möglich, alles ohne Ausnahme, was man nur irgend unter der lyrischen Gattung verstanden wissen wollte, als „Gedicht“ zu kategorisieren, wenn es nur der äußeren Form nach, also gleichsam auf dem Papier, den Anschein eines Gedichtes erweckte – welches nun gewöhnlich in dem äußerst simplen Kunstgriffe besteht, den „Gedankenwirrsal“ gleichsam auf Strophenlänge zu bringen. Dergleichen hat nun mit der rechten Kunst in der lyrischen Gattung rein gar nichts zu schaffen und ist deshalb des näheren Ausführens nicht wert.
Die wahre Kunst in der lyrischen Gattung besteht vielmehr recht eigentlich im intelligibelen Erfassen des Gegenstandes und seinem instinktsicheren Befassen unter die Kategorien der metrischen Gesetze. Es ist nämlich nicht jeder Gegenstand solcherart beschaffen, daß jede Versart bzw. Strophenform gleichermaßen angemessen erschiene: so werden je nach Maßgabe des Gegenstandes zum Beispiel eher das Sonett oder der Hymnus oder irgend eine andere, beliebige Versart oder Strophenform bevorzugt werden müssen. – Eng verbunden mit der Metrik ist der Reim. Der Reim ist, wiewohl ein wichtiges Element innerhalb derselben, so doch keine schlechthin notwendige Bedingnis der lyrischen Dichtkunst, gibt es doch mit dem Blankvers oder Distichon etwa Versarten, welche vorzüglich ohne Reim auskommen; indes wird dem lyrischen Elemente in den meisten Fällen auch der Reim zum Grunde liegen, und gewiß ist es kein Zufall, wenn sich beinahe all die großen, berühmten Gedichte und Balladen der bekannten Dichter des Reimes bedienen. Im allgemeinen können wir behaupten, daß Reim- und Verszwang jene Gesetze sind, denen sich der Dichter beim Verfassen von lyrischen Werken vorzüglich unterworfen sieht. Er wird deshalb gezwungen sein, je nach Maßgabe des Gegenstandes und dessen Erfordernis bald dieses, bald jenes der genannten Gesetze als das primäre oder sekundäre Prinzip zu behandeln, je nachdem, ob Inhalt oder Ästhetik der Vorrang gebührt. Ist ersteres der Fall, wird man die Silbenquantität oder –qualität etwa zugunsten der Aussagemodi oder des Reimes hintenansetzen, während bei letzterem vorzugsweise auf die Reinheit des Verses als dem rechten Versmaß auf Kosten des Inhaltes, der Aussage, geachtet wird. Nur selten wird es dem Dichter gelingen, sich in beiden Stücken in gleicher Weise schadlos zu halten, da jedermann, der sich nur ein Weniges aufs Dichten versteht, schnell einsehen wird, daß es schwerlich möglich sein wird, ein seinem Inhalte nach passendes Wort für ein Gedicht zu gebrauchen, welches das Versmaß gleichwohl nicht erfüllt; kurz, ich nicht ein Wort gebrauchen kann, das seinem Wesen nach ein Anapäst ist, wo ich eines Daktylus’ bedarf. Derlei Ding zu entscheiden ist alleiniges Vorrecht des wahren Dichters – denn kein anderes Entscheidungsmoment kann dabei herangezogen werden.
Wir erkennen also bei näherer Betrachtung, daß die lyrische Gattung mit Ende des 19. Jhdt. immer seltener wird und in der Gegenwart bis auf wenige Ausnahmen als fast nicht mehr existent gilt – wenigstens kann von keiner selbständigen, lyrischen Gattung mehr die Rede sein. Nichtsdestoweniger gilt es, dieses Erbe zu bewahren – und in diesem Sinne gehen meine Bemühungen dahin, dem geschätzten und kunstsinnigen Bewunderer lyrischer Stücke einen kleinen Gedichtband vorzulegen, der hoffentlich den billigen Ansprüchen des wahren Kunstfreundes einigermaßen gerecht zu werden vermag. Die in diesem Band enthaltenen Werke sind das Resultat eines Schaffens, das etwa zehn Jahre umspannt und sowohl Stücke im traditionell-klassischen als auch romantischen Geiste umfaßt. Es sind dies anfänglich Themenkreise aus der griechischen Mythologie, die zu einem Balladenzirkel – „Der Ring der Kroniden“ – verdichtet wurden. Ferner stehen neben diesen Gedichte von ausnehmend romantischer Qualität, die ihrem Wesen nach der romantischen Schule angehören, ebenso wie Ideengedichte und Balladen, welche keiner der genannten Kategorien zugehören und mehr oder weniger isoliert dazwischen stehen. Gleichwohl können jene gleichsam als Bindeglied betrachtet werden, welche das klassische und das romantische Element erst zu einer organischen Ganzheit verknüpfen.
Dieses kleine Traktätchen ist weniger aus dem Bestreben entstanden, dem Kunstfreunde als Wegweiser der Poetik zu dienen, als vielmehr, ihm einen Einblick in die wahren Verhältnisse der lyrischen Poesie zu verschaffen, welche von der zeitgenössischen Literatur nur gar zu gerne getrübt werden und die jenem ein so ganz anderes Bild in Ansehung von Lyrik vorspiegelt, um desto ungestörter ihre „carmina insana“ predigen zu können. Möge dieser Band ferner dazu beitragen, das Erbe lyrischer Kunst in der Gegenwart nicht nur passiv zu vermitteln, indem man auf eine diesbezüglich einstmals reiche Vergangenheit verwiesen wird, sondern vielmehr aktiv zur Gestaltung lyrischer Poesie auch in der Gegenwart aufzurufen. Ob unser Versuch ein glücklicher genannt zu werden verdient? Die Zukunft wird es lehren!

Salzburg, den 04. November 2008
Der Verfasser                       




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