Tractatulus lyricus
Ein Büchlein der normativen, lyrischen Poeterey in der deutschen Sprache zum Behufe des praktischen Gebrauches, mit etwelchen nützlichen Handreichungen
von Monsieur Thomas von Kienperg
Dem ehrenvollen Angedenken der edlen Beschirmer der Künste, Sr. Majestät Franz Josef I. von Habsburg, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, und seiner hochgebornen Gemahlin Elisabeth von Wittelsbach, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, in dankbarer Verehrung gewidmet
PROLOGUS
Wohl wünschte ich, ich wäre dieser Einleitung, und mehr noch des ganzen Traktätchens a priori überhoben worden, indem nämlich die theoretischen Grundlagen der lyrischen Poeterey bzw. deren praktische Anwendung so allgemein verbreitet gewesen wären, daß es beides gar nicht bedurft hätte! Noch bis zum Anfang des verwichenen Säkulums wäre dieses Büchlein in der Tat höchst überflüssig gewesen, und füglich dürfen wir annehmen, daß sich jener Umstand, daß die Dichter vergangener Jahrhunderte nie auf den Gedanken gekommen sind, ein Büchlein ähnlicher Art zu schreiben, alleine auf die Tatsache gründet, daß dazu schlichtweg keine Veranlassung bestand und die Kenntnis der normativen Poeterey als allgemein notwendig und unverzichtbar vorausgesetzt wurde.
Der universelle Verfall der deutschsprachigen Lyrik während der letzten Jahrzehnte hatte zur Folge, daß heute Celebritäten, denen die hohe Verpflichtung zufiele, sich für eine fortgesetzte Bewahrung traditioneller Poesie in der Gegenwart zu verwenden, bis auf wenige Ausnahmen eine seltene Unkenntnis in der normativen, lyrischen Poeterey beweisen und so das Wissen um dieselbe gleichsam zu einem toten Gegenstand für Altphilologen sowie die Literaturforschung geworden ist, während in der eigentlichen Literatur allenthalben ein völlig falscher Begriff vorherrscht; lyrische Poesie existiert also schlechterdings nicht mehr – eben weil dies, welches man gegenwärtig unter demselben Begriffe vorgestellt wissen will, keine Lyrik meint!
Poesie sollte zuallernächst etwas Organisches sein; wir alle, und nicht nur ein autokratischer Klüngel sollen an ihr teilhaben können, und nicht den capriziösen Launen dieser oder jener Zeit, sondern der klassischen, lyrischen Dichtkunst, die allezeit gültig und eben deshalb zeitlos ist, gebührt das alleinige Vorrecht, die Tradition zu behaupten. Nun schiene es allerdings in der Tat bedauerlich, wenn diese Tradition nur mehr in der passiven Rezeption altbekannter Dichterwerke, so unsterblich diese gleich sein mögen, bestünde und man die der wahren Poesie Kundigen und Fähigen nicht wieder dazu anhielte, sich der Lyrik in schöpferischer Absicht zuzuwenden. Dies also sei mein erklärtes Ziel, den modernen Menschen wieder für jene klassische, lyrische Poesie zu begeistern und ihm die theoretischen Hilfsmittel – gleichsam als Organon – an die Hand zu geben, damit er die Grundlagen der normativen Poeterey einsehen und sich im praktischen Gebrauche derselben üben möchte!
Mein Anspruch war es, das Büchlein so einfach und schlicht als möglich zu halten; weder entsprach es meiner Absicht, mich in weitschweifende Spielarten und Ausführungen zu verlieren, noch dabei allzu knapp und oberflächlich zu verfahren, sondern die wichtigsten Grundlagen der normativen Poeterey vielmehr auf eine Weise zu behandeln, daß sie recht von Herzen begriffen und zum praktischen Gebrauche anregen möchte! Ich ersuche deshalb um Nachsicht, falls ich aus Beweggründen, die in der Natur des Dichters ihre Ursache haben, entschieden habe, Reim- bzw. Versarten von nur geringer Bedeutung unerwähnt zu lassen, indem es uns eben vorzüglich um die Grundlagen zu tun ist und das Eingehen auf jene, die in der deutschen Lyrik kaum eine ernsthafte Rolle spielen, dem praktischen Nutzen dieses Büchleins nur abträglich gewesen wäre! Wir werden also zunächst damit beginnen müssen, das metrische Gesetz der Lyrik als ihr eigentümliches Wesen zu erhellen, und anschließend zu den wichtigsten und bekanntesten Vers- und Strophenarten fortschreiten, um dieselben sowohl hinsichtlich ihrer forma als auch anhand von exempla auseinanderzusetzen.
Gelingt es uns, dies Vorhaben nach Maßgabe unserer Möglichkeiten durchzuführen, so ist ein kleiner, obzwar nicht unbedeutender Schritt getan, der klassischen, lyrischen Poesie wieder zu mehr Ansehen zu verhelfen und damit die Hoffnung vorhanden, es mögen sich auch in künftigen Tagen Menschen finden, das schlechthin Vortreffliche, in welcher Gestalt es auch immer auftritt, wieder neu zu entdecken und für kommende Geschlechter als unverlierbares Erbe der Menschheit zu bewahren!
Salzburg, den 17. Mai 2016
Der Verfasser
PRIMAE PARTIS
Ars metrica
I. ALLGEMEINE VERSLEHRE
1) Phonetik und Prosodik 2) Der akzentuierende Vers im Gegensatz zum quantitierenden Vers 3) Die Verseinheiten (Versfüße) a) Jambus b) Anapäst c) Trochäus d) Daktylus
II. REIMLEHRE
1) Der Reim 2) Der Reim nach seiner Stellung innerhalb der Verszeile A) Endreim und Kadenz a) Männlicher oder stumpfer Reim b) Weiblicher oder klingender Reim c) Gleitender Reim d) Reicher Reim oder Doppelreim e) Rührender Reim B) Binnenreim 3) Der Reim nach seiner Qualität a) Reiner und unreiner Reim 4) Die Reimzeilen a) Kreuzreim b) Paarreim c) Umschlungener oder umarmender Reim, Schweifreim d) Verschränkter Reim 5) Halbreime oder unechte Reime a) Anklang oder Assonanz b) Stabreim oder Alliteration
III. DIE VERSIFICATION UND DERSELBEN WICHTIGSTE STILMITTEL
1) Versification 2) Versbrechung oder Enjambement, Reimbrechung 3) Acephaler Vers 4) Katalexe 5) Hebungsprall 6) Spondeus
SECUNDAE PARTIS
Ars lyrica
I. SPECIFISCHE VERSLEHRE UND VERSARTEN
1) Der Vers als compositum oder metronem zweier oder mehrerer Versfüße 2) Die Verszeile 3) Wichtigste Versarten der deutschen Lyrik A) Jambischer Vers a) Jambischer Fünfheber und Blankvers b) Jambischer Vierheber c) Jambischer Dreiheber B) Trochäischer Vers a) Trochäischer Fünfheber b) Trochäischer Vierheber c) Trochäischer Dreiheber C) Nibelungenvers D) Knittelvers 4) Wichtigste fremde Versarten der deutschen Lyrik a) Alexandriner b) Hexameter c) Pentameter
II. STROPHENLEHRE UND STROPHENFORMEN
1) Die Strophe als compositum zweier oder mehrerer Verszeilen 2) Wichtigste Strophenformen der deutschen Lyrik a) Zweizeiler oder Couplet b) Vierzeiler oder Quartett c) Sechszeiler oder Sextett d) Achtzeiler oder Oktett e) Imparitätische Strophe f) Nibelungenstrophe 3) Wichtigste fremde Strophenformen der deutschen Lyrik A) Sonett B) Terzett oder Terzine C) Stanze oder Ottaverrime D) Ritornell E) Distichon F) Ode a) Alkäische Strophe b) Sapphische Strophe G) Ghasel
I. ALLGEMEINE VERSLEHRE
1) PHONETIK UND PROSODIK
Den Ausgangspunkt zur allgemeinen Verslehre bilden die natürlichen Lauteigenschaften der deutschen Sprache, deren Lehre wir als Phonetik (Lautlehre) bezeichnen. Neben den natürlichen Lauteigenschaften der Sprache spielt in der gebundenen Sprache die Prosodik eine bedeutende Rolle. Sie bezeichnet die künstlichen Lauteigenschaften von Sprache in Hinblick auf Deklamation, Rezitativ, Intonation usw. Phonetik und Prosodik müssen im Vers also nicht immer notwendig zusammenfallen.
2) DER AKZENTUIERENDE VERS IM GEGENSATZ ZUM QUANTITIERENDEN VERS
Die allgemeine Verslehre gründet sich auf die specifischen Eigenschaften der deutschen Sprache. Zur germanischen Sprachgruppe gehörend, unterliegt sie der conditio sine qua non des akzentuierenden Verses, dessen vorzüglichstes Kennzeichen in der Silbenbetonung liegt; wir unterscheiden also zwischen betonten und unbetonten Silben. Sein Äquivalent ist der quantitierende Vers der Antike, der zwischen Längen und Kürzen unterscheidet. Den Längen und Kürzen des quantitierenden Verses entsprechen die betonten und unbetonten Silben der akzentuierenden Metrik. Im Folgenden werden wir in der formalen Darstellung betonte Silben mit —, unbetonte Silben mit X bezeichnen.
3) DIE VERSEINHEITEN (VERSFÜSSE)
Als Versfuß bezeichnen wir die kleinste, rhythmische Einheit eines Verses. Die deutsche Sprache kennt vier Verseinheiten (Versfüße), aus deren synthetischer Verknüpfung sich alle bekannten Versarten ableiten lassen; die verschiedenen Versarten sind also lediglich composita oder metroneme der jeweiligen Versfüße.
a) DER JAMBUS
Der in der deutschen Dichtung am häufigsten vorkommende Versfuß ist der Jambus. Dieser Umstand läßt sich damit erklären, daß der Auftakt einerseits in der Natur unserer Sprache liegt bzw. Verszeilen andererseits vorzugsweise mit einem Artikel oder monosyllabischen Partikeln beginnen. Der Jambus ist ein steigender Versfuß mit einer Senkung, d. h. er besteht aus zwei Silben, wovon die erste unbetont, die zweite und letzte betont ist.
Form: X —
Beispiel: Gebot, Poet usw.
b) DER ANAPÄST
Einen steigenden Versfuß mit einer Doppelsenkung bezeichnen wir als Anapäst. Er besteht aus drei Silben, wovon die ersten beiden unbetont, die dritte und letzte betont ist.
Form: X X —
Beispiel: Anapäst, in das Haus usw.
c) DER TROCHÄUS
Das Gegenstück zum Jambus bildet der Trochäus. Er findet in der deutschen Dichtung weit geringere Anwendung als der Jambus. Dies läßt sich, wie wir weiter oben schon feststellten, aus dem fehlenden Auftakt sowie aus der Tatsache erklären, daß der fortlaufenden, trochäischen Lyrik zuweilen das Onomatopoetische von Interjektiven anhaftet („Apfel, Nuß und Mandelkern, essen alle Kinder gern“ „Kuckuck Kuckuck“ „Holla Holla“ usw.) Der Trochäus ist ein fallender Versfuß mit einer Senkung, d. h. er besteht aus zwei Silben, wovon die erste betont, die zweite und letzte unbetont ist.
Form: — X
Beispiel: Jambus, Vater usw.
d) DER DAKTYLUS
Einen fallenden Versfuß mit einer Doppelsenkung bezeichnen wir als Daktylus. Er besteht aus drei Silben, wovon die erste betont, die zweite und dritte unbetont sind.
Form: — X X
Beispiel: Daktylus, Heilungen usw.
II. REIMLEHRE
1) DER REIM
Als Reim bezeichnen wir allgemein den Gleichklang einer oder mehrerer Silben, beginnend mit dem letzten, betonten Vokal bei verschiedenem Silbenanlaut. Im Folgenden werden wir versuchen, den Reim zweckmäßig nach Kategorien zu befassen.
2) DER REIM NACH SEINER STELLUNG INNERHALB DER VERSZEILE
A) ENDREIM UND KADENZ
Der Endreim hat, wie der Name bereits verrät, seine Stellung am Ende einer Verszeile; es ist dies die klassische und am häufigsten gebrauchte Reimstellung. Das Ende einer Verszeile bezeichnen wir als Versschluß sowie dessen tonale Gestaltung als Kadenz. Die Kadenz erscheint sehr oft synchron mit dem Endreim, kann aber z. B. im Blankvers auch reimlos auftreten. Wir können also sagen, daß jeder Reim eine Kadenz hat, nicht aber jede Kadenz einen Reim; da indes beide häufig genug zusammenfallen, wollen wir sie in der Folge auch einheitlich behandeln.
a) MÄNNLICHER ODER STUMPFER REIM
Endet der Reim einsilbig auf einer betonten Silbe, sprechen wir von einem männlichen oder stumpfen Reim oder Kadenz.
Beispiel: rot : tot, Not : Gebot
b) WEIBLICHER ODER KLINGENDER REIM
Endet der Reim zweisilbig auf einer unbetonten Silbe, sprechen wir von einem weiblichen oder klingenden Reim oder Kadenz; er entspricht der trochäischen Weise.
Beispiel: rote : tote, Jahren : Gefahren
c) GLEITENDER REIM
Endet der Reim dreisilbig auf zwei unbetonten Silben, sprechen wir von einem gleitenden Reim oder Kadenz; er entspricht der daktylischen Weise.
Beispiel: rosige : moosige, lebende : strebende
d) REICHER REIM ODER DOPPELREIM
Wird ein zweisilbiger Reim aus zwei je einsilbigen Worten gebildet, wovon jedes für sich aufeinander reimt, sprechen wir von einem reichen Reim oder Doppelreim; seltener werden sie aus zwei mehrsilbigen Worten gebildet. Reiche Reime oder Doppelreime können sowohl mit männlicher als auch weiblicher Kadenz auftreten.
Beispiel: mein Sang : dein Klang, sang er : klang er, reiner singen : feiner klingen
e) RÜHRENDER REIM
Lauten die Reimworte gleich und unterscheiden sich nur durch ihre Bedeutung voneinander, sprechen wir von einem rührenden Reim. Der rührende Reim hat also auch denselben Silbenanlaut und ist demnach nur ein Reim im äquivoken Sinn.
Beispiel: Vaterunser : unser, erweisen : weisen
B) BINNENREIM
Der Binnenreim hat, wie uns sein Name bereits verrät, seine Stillung innerhalb der Verszeile und reimt auf ein anderes Wort innerhalb derselben Verszeile, zumeist auf den Versschluß. Binnenreime kommen in der Dichtung eher selten vor.
Beispiel: Ei horch’ nur, was schallt, durch Hecke und Wald
3) DER REIM NACH SEINER QUALITÄT
a) REINER UND UNREINER REIM
Reimen die betonten Silben der Reimwörter sämtlich auf gerundete Vokale, heißt der Reim rein; der reine Reim ist der im Vers anzustrebende.
Wechseln die betonten Silben der Reimwörter zwischen gerundeten und ungerundeten Vokalen (Umlaute oder Zwielaute), heißt der Reim unrein; dasselbe gilt bei unterschiedlicher Länge der Vokale. Der unreine Reim ist seiner Qualität nach ebenso vollgültig wie der reine Reim; gleichwohl gilt die Bemerkung, daß im Interesse des harmonischen Gleichklangs der reine Reim der nach Möglichkeit vorzuziehende und also der im Vers anzustrebende sei.
Beispiel: ziehen : bemühen, Leiden : Freuden, Gott : Tod
4) DIE REIMZEILEN
Hinsichtlich der Anordnung der Reimzeilen innerhalb einer Strophe treten die nachfolgenden Varianten der Reihenfolge nach am häufigsten auf.
a) KREUZREIM
Der Kreuzreim ist neben dem Paarreim der am häufigsten auftretende Reim; die Reimzeilen wechseln einander ab, wobei sie zumeist wechselweise mit einer stumpfen und klingenden Kadenz enden. Das Reimschema lautet abab
Gottfried August Bürger, Lenore
Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen?“
Der Kreuzreim kann auch mit sogenannten (reimlosen) Blindzeilen wechseln; ist dies der Fall, erscheinen nur die jeweils paritätischen oder imparitätischen Verszeilen im Endreim. Das Reimschema lautet alsdann axax oder xaxa
Heinrich Heine, Im wunderschönen Monat Mai
Im wunderschönen Monat Mai,
als alle Knospen sprangen,
da ist in meinem Herzen
die Liebe aufgegangen.
b) PAARREIM
Im Paarreim folgen die Verszeilen paarweise aufeinander; auch hier wechseln stumpfe und klingende Kadenz oftmals ab. Das Reimschema lautet aabb
Gottfried August Bürger, Lenore
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht
Und hatte nicht geschrieben,
ob er gesund geblieben.
c) UMSCHLUNGENER ODER UMARMENDER REIM
Beim umschlungenen oder umarmenden Reim „umschlingen“ oder „umarmen“ zwei Reimzeilen jeweils ein Reimzeilenpaar. Erstere nennen wir Außenreime, letztere Innenreime. Er tritt z. B. stets bei den Quartetten des Sonetts auf. Das Reimschema lautet abba
Ferdinand von Saar, Das Sonett
Ein Labyrinth mit holdverschlungnen Gängen
Hat dem Gedanken still sich aufgeschlossen;
Er tritt hinein – und wird sogleich umflossen
Von Glanz und Duft und zauberischen Klängen.
Folgt auf einen Paarreim ein umschlungener Reim, wird dieser als Schweifreim bezeichnet (vide Strophenformen, Sechszeiler oder Sextett).
d) VERSCHRÄNKTER REIM
Beim verschränkten Reim folgen drei (oder mehrere) Reimzeilen in fortlaufender Sequenz aufeinander. Er kann z. B. bei den Terzetten des Sonetts auftreten. Das Reimschema lautet alsdann abc abc
Johann Wolfgang von Goethe, Natur und Kunst
So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
In gewissem Sinne freilich können wir jeden Reim innerhalb einer Strophe, in der die Reimzeilen keiner regelmäßigen Anordnung folgen, als verschränkten Reim bezeichnen, da die Reimzeilen zuweilen unregelmäßig ineinander verschoben auftreten; dies ist naturgemäß bei imparitätischen Strophen der Fall. Das Reimschema ist also variabel bzw. es können die vorgenannten Formen untereinander vermischt auftreten.
Johann Wolfgang von Goethe, Die Braut von Korinth
Das Reimschema lautet ababccb
Höre, Mutter, nun die letzte Bitte:
Einen Scheiterhaufen schichte du;
Öffne meine bange kleine Hütte,
bring in Flammen Liebende zur Ruh!
Wenn der Funke sprüht,
wenn die Asche glüht,
eilen wir den alten Göttern zu.
Johann Wolfgang von Goethe, Der Schatzgräber
Das Reimschema lautet abbcaddc
Arm am Beutel, krank am Herzen,
schleppt ich meine langen Tage.
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!
Und zu enden meine Schmerzen,
ging ich, einen Schatz zu graben.
„Meine Seele sollst du haben!“
Schrieb ich hin mit eignem Blut.
Läßt sich bei ersterer Strophe noch eine Verschränkung von Kreuzreim und umschlungenem Reim beobachten, handelt es sich bei letzterer um einen echten verschränkten Reim.
5) HALBREIME ODER UNECHTE REIME
a) ANKLANG ODER ASSONANZ
Der Anklang oder die Assonanz ist ein Halbreim, wo lediglich die Vokale der jeweiligen Reimworte kongruieren; in der deutschen Lyrik ist die Assonanzenstrophe nur von sekundärer Bedeutung.
Beispiel: wachen : Gaben, wehren : Segen
Joseph von Eichendorff, Assonanzenlied
Hat nun Lenz die silbern’n Bronnen
Losgebunden:
Knie’ ich nieder, süßbeklommen,
in die Wunder.
b) STABREIM ODER ALLITERATION
Der Stabreim oder die Alliteration ist ein Halbreim, der lediglich Gleichheit des Anlauts zweier oder mehrerer betonter Silben verlangt; die altnordische Heldendichtung ausgenommen, spielt er in der deutschen Lyrik nur eine sekundäre Rolle und findet sich unter anderem als Stilmittel bei epischen Texten wieder.
Beispiel: Mann und Maus, Kind und Kegel, Stock und Stein
Karl Simrock, Übersetzung aus der Edda
Ich will Walvaters Wirken künden
Am starken Stamm im Staub der Erde
III. DIE VERSIFICATION UND DERSELBEN WICHTIGSTE STILMITTEL
1) VERSIFICATION ODER VERSBAU
Als Versification bezeichnen wir die synthetische Verknüpfung zweier oder mehrerer Verseinheiten oder Versfüße zu einer metrischen Einheit, dem Vers. Verse werden gewöhnlich nach Zeilen gegliedert, diese nennen wir Verszeilen. Zwei oder mehrere Verszeilen ergeben eine Strophe, zwei oder mehrere Strophen die lyrische Einheit, nämlich das Gedicht oder die Ballade; ein kurzes Gedicht oder Epigramm kann auch aus nur einer einzigen Strophe bestehen.
2) VERSBRECHUNG ODER ENJAMBEMENT, REIMBRECHUNG
Als Versbrechung oder Enjambement bezeichnen wir das Übergreifen eines Satzes oder einer in sich geschlossenen Sinneinheit von einer Verszeile in die nächstfolgende. Erfolgt die Versbrechung zugunsten des Reimes, indem z. B. ein zwei- oder mehrsilbiges Wort von einer in die nächstfolgende Verszeile übergreift, bezeichnen wir diese als Reimbrechung. Beides sind vollgültige Stilmittel, sollten aber im Interesse der Reinheit des Verses nur zur Erreichung einer bestimmten Absicht oder als notwendiges Behelfsmittel eingesetzt werden.
Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibykus
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.
Reimbrechung, Merkvers
Meist die Kunst der Reim-
brechung bleibt geheim!
3) ACEPHALER VERS
Als acephal bezeichnen wir einen Vers dann, wenn er, zumeist im Interesse des Auftaktes, um die erste Silbe verkürzt erscheint. In der deutschen Dichtung kommt der acephale Vers namentlich beim anapästischen Versmaß vor, indem der erste Anapäst zu einem Jambus verkürzt wird.
Gottfried August Bürger, Der Kaiser und der Abt
Ich will euch erzählen ein Märchen gar schnurrig;
X — X X — X X — X X — X
Es war ’mal ein Kaiser; der Kaiser war kurrig;
X — X X — X X — X X — X
Auch war ’mal ein Abt, ein gar stattlicher Herr;
X — X X — X X — X X —
Nur schade! Sein Schäfer war klüger als er.
X — X X — X X — X X —
4) KATALEXE
Als katalektisch bezeichnen wir einen Vers dann, wenn der letzte Versfuß, zumeist im Interesse der Kadenz, um eine oder zwei Silben verkürzt erscheint. In der deutschen Dichtung kommt der katalektische Vers naturgemäß beim daktylischen Versmaß vor, indem gleitende Reime oder Kadenzen schwieriger zu bilden sind und so der letzte Daktylus häufig zu einem Trochäus verkürzt wird. Das klassische Beispiel einer natürlichen Katalexe finden wir z. B. im Distichon wieder, wo der letzte Daktylus des Hexameters stets zu einem Spondeus oder Trochäus verkürzt erscheint, und imgleichen der Pentameter sogar in einer Brachykatelexe, also gleich um zwei Silben verkürzt, endet.
Friedrich von Matthisson, Skolie
Mädchen entsiegelten,
— X X — X X
Brüder! Die Flaschen;
— X X — X
Auf! Die geflügelten
— X X — X X
Freuden zu haschen
— X X — X
Locken und Becher von Rosen umglüht!
— X X — X X — X X —
5) HEBUNGSPRALL
Hebungsprall nennen wir das unmittelbare Aneinanderstoßen zweier Hebungen (Doppelhebung), welches im fortlaufenden Duktus ein Intervallum bewirkt. Das klassische Beispiel eines natürlichen Hebungspralls finden wir z. B. im Pentameter des Distichons vor, wo jeweils vor bzw. nach dem Einschnitt (der Zäsur) eine betonte Silbe steht. Zu einem Hebungsprall kann es außerdem am Übergang von Verszeilen kommen, indem eine Verszeile mit einer stumpfen Kadenz endet und die nächstfolgende auftaktlos beginnt. Ferner ist ein Hebungsprall bei Langzeilen mit Zäsuren möglich, z. B. in der Nibelungenstrophe, wenn der Anvers selten auf einer betonten Silbe endet und der Abvers auftaktlos beginnt.
Friedrich Schiller, Das Distichon
Im Pentameter drauf // fällt sie melodisch herab.
— X — X X — // — X X — X X —
Joseph von Eichendorff, Die Sperlinge
In dem Baume vor der Tür
— X — X — X —
Tummeln wir in hellen Haufen
— X — X — X — X
6) SPONDEUS
Der Spondeus entstammt ursprünglich dem quantitierenden Vers der antiken Dichtung, wo er einen Versfuß mit zwei Längen bezeichnet; im akzentuierenden Vers der deutschen Dichtung entspricht er einem Versfuß mit zwei betonten Silben. Da diese in der akzentuierenden Metrik nicht rein vorkommen, müssen deutsche Spondeen der Regel nach aus zwei Wortstämmen gebildet werden, wobei auch hier gewöhnlich die erste Silbe um ein Geringes stärker betont wird; für sich selbst genommen kommt beiden eine gleich starke Betonung zu. Spondeen werden in der deutschen Dichtung namentlich bei der Nachbildung antiker Versarten, vor allem des Hexameters, gebraucht; indes kommt dem Spondeus aber auch im gewöhnlichen, alternierenden Vers insofern Bedeutung zu, indem man z. B. anstelle eines Jambus oder Trochäus einen Spondeus setzt, der im Interesse der Prosodik entweder auf der ersten oder zweiten Silbe betont werden kann; man könnte den deutschen Spondeus also auch als eine Art künstlich konstruierten Hebungsprall bezeichnen.
Beispiel: Feldzug, Heerfahrt, Deutschland, pechschwarz, aufsteigt usw.
Johann Heinrich Voß, Übersetzung aus der Ilias des Homer
Bis er das // Haupt hin // dreht’ und am // Flügel die // Schreiende // haschte.
— X X // — — // — X X // — X X // — X X // — X
Der Spondeus im alternierenden Vers
Pechschwarz die Wetterwolk’ aufsteigt (jambisch)
— — // X — // X — // — —
Pechschwarz das Gewölke aufsteigt (trochäisch)
— — // — X // — X // — —
Ein künstlicher Hebungsprall kann im alternierenden Vers auch durch die unmittelbare Aufeinanderfolge zweier Monosyllaben (Einsilber) erreicht werden. Da es sich in diesem Fall allerdings dem Wesen nach um keinen Spondeus handelt, nennen wir eine solche Erscheinung Pseudospondeus.
Weh dem, dem Mann, der ihn gefällt (jambisch)
— — // X — // — — // X —
Weh dem Manne, der ihn fällte (trochäisch)
— — // — X // — — // — X
CONTINUUM >>>
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