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3) WICHTIGSTE FREMDE STROPHENFORMEN DER DEUTSCHEN LYRIK

Mit demselben Eifer, mit dem die Dichter der klassischen Zeit um die Etablierung der heute bekannten, deutschen Strophenformen bemüht waren, wandten sie sich der fremdsprachlichen Dichtung zu. Vor allem waren es die antiken und italienischen Dichter, die auf dem Felde der Strophenlehre Unvergleichliches geleistet haben, und nur die konsequente Nachbildung all jener Formen konnte bewirken, daß bestimmte Strophenformen heute aus der deutschen Lyrik nicht mehr wegzudenken sind. Die wichtigsten fremden Strophenformen der deutschen Lyrik wollen wir im Nachfolgenden behandeln; da es sich dabei sämtlich um mehr oder weniger prädeterminierte (feststehende) Strophenarten handelt, die ausschließlich in ihrer reinen Form vorkommen, fügen wir das jeweilige Vers- sowie Reimschema bei.

A) SONETT


Das Sonett ist gewiß eine jener Strophenformen, mit denen sich unsere Dichter am meisten beschäftigt haben. Petrarca und Dante haben dem Sonett in der italienischen Dichtung zuerst zu allgemeinem Ruhm und Ansehen verholfen. Recht betrachtet, handelt es sich beim Sonett nicht eigentlich um eine Strophenform, sondern vielmehr um ein fertiges Gedicht, das lediglich über eine genau definierte Anzahl und Abfolge von Strophen verfügt, und dieser Umstand macht es zu einer Ausnahmeerscheinung in der deutschen Lyrik; keine andere Strophenform nämlich kann von sich aus den Anspruch erheben, bereits ein in sich geschlossenes und durchkomponiertes Gedicht zu sein, und vielleicht war es ja gerade jener Umstand, der die Faszination dieser Gedicht- oder Strophenform ausmachte. 
Wir haben bereits gehört, daß das Sonett aus jeweils zwei Quartetten und Terzetten besteht, welche sämtlich aus fünfhebigen Jamben gebildet werden. Die beiden Quartette erscheinen im umarmenden oder umschlungenen Reim, während die beiden Terzette die unterschiedlichsten Verschränkungen des Reimes aufweisen können; die klassische Form ist jedoch die des in der reinen Terzine fortlaufenden Reimschemas: aba bcb (beim Sonett: cdc dcd). Die Kadenz kann im Versschluß sowohl stumpf als auch klingend sein, wobei die klingende Kadenz die häufiger vorkommende sowie auch die nach Möglichkeit anzustrebende ist.
Man hat oftmals geltend machen wollen, daß in den beiden Quartetten des Sonetts These und Antithese, in den Terzetten eine Art Synthese statthaben sollen; dem wollen wir insofern beipflichten, als das Sonett durch seinen logischen Aufbau in der Tat zu solchem Zwecke geeignet erscheint, jedoch einschränkend hinzufügen, daß dies wie bei allen Formalbeispielen nur auf der Mehrzahl der Erscheinung und somit auf Erfahrung beruht, sodaß wir wohl auch von Beispielen zu berichten wüßten, wo diese Behauptung nicht notwendig zutrifft. Das allgemeine Beispiel eines Sonetts stellt sich uns also folgendermaßen dar.

Versschema: X — X — X — X — X — (X)
Reimschema: abba abba cdc dcd

Ferdinand von Saar, Das Sonett

Ein Labyrinth mit holdverschlungnen Gängen
Hat dem Gedanken still sich aufgeschlossen;
Er tritt hinein – und wird sogleich umflossen
Von Glanz und Duft und zauberischen Klängen.

Hier leuchten Blumen, die auf Wiesenhängen
Des Pflückers harren, sehnsuchtsvoll entsprossen,
dort wollen Zweige, goldschwer übergossen,
den Wandelnden auf schmalem Pfad bedrängen.

Der aber, wird so mancher Wunsch ihm rege,
pflückt eine Frucht nur mit zufriedner Miene –
doch manche Blüte, die er trifft am Wege.

Und nun – ob er gefangen auch erschiene
Schon in des Vierreims wechselndem Gehege –:   
Geleitet ihn ins Freie die Terzine.


Unschwierig können wir an diesem Beispiel sämtliche, typische Merkmale des Sonetts erkennen. Abweichende Formen unterscheiden sich von der klassischen Form vorzugsweise in der Anordnung der Reimzeilen in den Terzetten, die außer dem klassisch-fortlaufenden Terzinenreim auch noch gerne in folgender Konstellation auftreten:

cde cde; ccd dee; ccd eed; ccc ddd; cdd cee; cde edc; cdc ede;

Grundsätzlich sind bei den Terzetten sämtliche Kombinationen möglich. Bei Sonetten der jüngeren Zeit wurden sogar schon analoge Abwandlungen der Quartette beobachtet.

Eine Reihe aus vierzehn aufeinanderfolgenden Einzelsonetten bezeichnen wir als Sonettenkranz. Diese Zahl ergibt sich aus der Anzahl der Verszeilen, deren im Sonett insgesamt vierzehn sind. Die letzte Verszeile eines Einzelsonetts bezeichnet im fortlaufenden Sonettenkranz immer zugleich die erste Verszeile des Folgesonetts, sodaß die letzte Verszeile des letzten und vierzehnten Einzelsonetts der ersten Verszeile des ersten Einzelsonetts des Sonettenkranzes entspricht. Die sukzessive Aneinanderreihung aller ersten Verszeilen der vierzehn Einzelsonette ergibt dann das fünfzehnte sogenannte Meistersonett. Ein Sonettenkranz ist der Regel nach retrolog, d. h. aus dem fünfzehnten und letzten Meistersonett werden alle vierzehn Einzelsonette abgeleitet, deren Resultat wiederum das Meistersonett ist. Im übrigen wird in der deutschen Lyrik ein aus mehreren Sonetten bestehender Zyklus allgemein als Sonettenkranz bezeichnet.

B) TERZETT ODER TERZINE

Mit einem Worte könnten wir die Terzine schlicht als die „Divina-Comedia-Strophe“ bezeichnen. Wir haben gesehen, daß die Terzine in ihrer Zweizahl auch als Strophenform des Sonetts eine bedeutende Rolle spielt. Sie wurde im spätmittelalterlichen Italien erfunden und gelangte durch Dantes „Göttliche Komödie“ zu unsterblichem Weltruhm. Wie uns der Name verrät, besteht die Terzine aus drei Verszeilen, die aus fünfhebigen Jamben gebildet werden; die Kadenz ist in der fortlaufenden Terzine bald in den Außenzeilen, bald in der Mittelzeile stumpf bzw. klingend. Dem entspricht der Reim, wobei die beiden Außenzeilen jeweils aufeinander reimen und die Mittelzeile jeweils auf die beiden Außenzeilen der nächstfolgenden Terzine reimt: also fortlaufend, lassen sich unendlich viele Reime bilden. Eine solch fortgesetzte Art des Reimes bezeichnen wir auch als Kettenreim.       

Versschema: X — X — X — X — X — (X)
Reimschema: aba bcb cdc ded usw.

Dante Alighieri, Die göttliche Komödie

Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.

Wie schwer ist’s doch, von diesem Wald zu sagen,
wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not;
schon der Gedank’ erneuert noch mein Zagen.

Nur wenig bitterer ist selbst der Tod;
Doch um vom Heil, das ich drin fand, zu künden,
sag’ ich, was sonst sich dort den Blicken bot usw.

Auch in diesen Strophen erblicken wir sämtliche Merkmale der Terzine vereint. Die Terzine ist eine prädeterminierte Strophenform und kann nur nach derselben Weise dargestellt werden.

C) STANZE ODER OTTAVERRIME

Ebenfalls ursprünglich der italienischen Dichtung entstammt die Stanze oder Ottaverrime, der Achterreim. Wie der Name verkündet, wird sie aus acht Verszeilen gebildet, die aus fünfhebigen Jamben bestehen. Die Kadenz kann quodlibet enden, wechselt jedoch vorzugsweise zwischen klingend und stumpf. Ein charakteristisches Merkmal der Stanze ist der Dreierreim, der sich in den ersten sechs Verszeilen je dreimal wiederholt, sowie das zuletzt stehende Reimpaar, das zumeist einen Wechsel im Rhythmus erzeugt, indem es je nach Kadenz der sechsten Verszeile einem kontrastierenden Versschluß folgt. Im allgemeinen möchten wir sagen, daß die klassische Stanze mit einer klingenden Kadenz in der ersten Verszeile beginnt und also in der sechsten Verszeile mit einer stumpfen Kadenz endigt; der abschließende Paarreim wird demnach mit klingender Kadenz vorgetragen.        

Versschema: X — X — X — X — X — (X)
Reimschema: abababcc

Ferdinand von Saar, Die Pincelliade, Erster Gesang

Zwar in Italien stand des Mannes Wiege,
den, wie gesagt, zum Helden ich erkor,
obgleich er mitgekämpft in keinem Kriege
und sich im Frieden niemals tat hervor;
Kein Denker war er, feiernd Geistessiege,
kein Staatsmann – auch kein Maler, kein Tenor,
(der ging’ noch an!) bekennen muß ich leider
(und mit Erröten!), daß er war ein Schneider. 

Außer der Freiheit in der Darstellung der Kadenz handelt es sich bei der Stanze um eine feststehende Strophenform.

D) RITORNELL

Ebenfalls der italienischen Dichtung entstammt das Ritornell. Es handelt sich dabei um eine dreizeilige Strophenform, deren erste Verszeile gewöhnlich stark verkürzt erscheint und zumeist fünfsilbig auftritt; sie kommt mit oder ohne Auftakt vor. Die beiden Folgezeilen werden der Mehrzahl entsprechend zumeist in fünfhebigen Jamben dargestellt, wobei der Versschluß mit klingender Kadenz endet. Die erste sowie dritte Verszeile reimen aufeinander, während es sich bei der Mittelzeile um eine Waisenzeile handelt; auch andere Formen kommen gelegentlich vor.

Versschema: X — X — X — X — X — (X)
Reimschema: axa

Emanuel Geibel, Ritornelle von den griechischen Inseln

In Myrtenlauben
Singt Liebe hier die Nachtigall, und silbern
Den Fels umflattern Aphrodites Tauben.


Theodor Storm, Frauen-Ritornelle

Blühende Myrte –
Ich hoffte süße Frucht von dir zu pflücken,
die Blüte fiel, nun seh’ ich, daß ich irrte.


E) DISTICHON

Im Rahmen der wichtigsten fremden Versarten haben wir den Hexameter schon als den „König“ unter den antiken Versen gerühmt, der in der Poesie der Antike die mannigfaltigste Verwendung fand, während der Pentameter sein Dasein allein dem Distichon und seiner Symbiose mit dem Hexameter verdankt. Das Distichon ist seinem Wesen nach ein reimloser Zweizeiler, der in der kunstgerechten Verknüpfung eines Hexameters mit dem Pentameter besteht. In der Dichtung wird das Distichon als für sich stehend vorzugsweise für Epigramme gebraucht und findet sich als zusammenhängendes Versmaß vor allem in der Elegie wieder.   

Versschema:
— X (X) — X (X) — X (X) — X (X) — X X — X
— X (X) — X (X) — // — X X — X X —

Friedrich Schiller, Das Distichon

Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule
Im Pentameter drauf // fällt sie melodisch herab.


F) ODE

In der antiken, griechischen Dichtkunst war es vor allem Pindar, welcher der Odendichtung zu erstem, allgemeinem Ansehen verhalf. In der deutschen Lyrik machte sich namentlich Klopstock um sie verdient, aber auch Dichter wie z. B. Platen oder Hölderlin nahmen sich ihrer an und sicherten ihr dadurch einen bleibenden Platz im Pantheon der deutschen Lyrik; im Nachfolgenden wollen wir die beiden bekanntesten Odenformen, die alkäische und die sapphische Strophe, behandeln.

a) ALKÄISCHE STROPHE

Die nach dem griechischen Dichter Alkäos benannte Strophenform besteht aus vier reimlosen Verszeilen, deren Hebungen wie Senkungen feststehend und genau definiert sind. Die Ode läßt sich also nicht wohl unter die ars metrica befassen, sondern bestimmt sich allein durch die Anzahl bzw. Betonung der Silben; dementsprechend besteht die alkäische Strophe der Reihe nach aus zwei kongruierenden elfsilbigen, einer neun- sowie einer zehnsilbigen Verszeile. Die beiden Elfsilber weisen unmittelbar vor der dritten Hebung mit nachfolgender Doppelsenkung eine Zäsur auf. Im folgenden Beispiel werden die betonten Silben jeweils mit roter Farbe dargestellt.     

Friedrich Gottlieb Klopstock, An Fanny

Wenn einst ich todt bin, // wenn mein Gebein zu Staub
X X X // X X X
Ist eingesunken, // wenn du, mein Auge, nun
X X X // X X X
Lang’ über meines Lebens Schicksal,
X X X X X
Brechend im Tode, nun ausgeweint hast.
X X X X X X

b) SAPPHISCHE STROPHE

Einfacher im Aufbau zeigt sich uns die nach der durch ihren sagenhaften Tod legendär gewordenen, griechischen Dichterin Sappho von Lesbos benannte Strophe, die aus drei kongruierenden elfsilbigen und einer (stark verkürzten) fünfsilbigen Verszeile besteht. Auch hier folgen wir dem obigen Beispiel und bezeichnen die betonten Silben mit roter Farbe.

Ferdinand von Saar, Grillparzer

Nein, abseits vom Pfade, vereinsamt jetzt auch,
X X X X X X
abgewandt mit traurig gesenktem Haupte,
X X X X X X
aufgesucht von wenigen nur im Schatten
X X X X X X
hoher Gesche.
X X X

G) GHASEL

Das Ghasel stammt ursprünglich aus dem persischen Raum und wurde von Dichtern wie August Graf von Platen auch in die deutsche Lyrik eingeführt. Das Ghasel besteht aus fortlaufenden Strophenpaaren (Beits), deren erstes Paar den Ghaselreim im Paarreim vorgibt. Derselbe Reim wird nun im fortgesetzten Ghasel vom Versschluß jeder paritätischen Verszeile wieder aufgenommen, während die imparitätischen Verszeilen reimlos bleiben; Länge, Kadenz sowie Versmaß sind variabel, jedoch wird das einmal gewählte Versmaß der Regel nach durchgängig beibehalten. Häufig wird nach dem eigentlichen Reimwort ein- und derselbe Versschluß mantraartig wiederholt. Seines eigenartigen Charakters wegen konnte sich das Ghasel (ebenso wie das Ritornell) in der deutschen Lyrik nur als Fanfaronade behaupten, die in der Hauptsache dazu diente, seine Fertigkeit als Dichter zu zeigen. Das allgemeine Reimschema lautet also aa xa xa xa usw.

Emanuel Geibel, Athen

Zur Zeit, wenn der Frühling die Glut der Rosen entfacht in Athen,
wie dämmert so lieblich alsdann die duftige Nacht in Athen!
Hoch leuchtet der Mond und bescheint Zypressen und Palmen umher
Und marmornen Tempelgesäuls versinkende Pracht in Athen.
Wir aber bekränzen das Haupt und füllen den Becher mit Wein,
gedenkend, wie Sokrates einst die Nächte verbracht in Athen.
Von Lieb’ entspinnt sich Gespräch; denn ob auch Pallas die Burg
Beherrschen mag, Eros der Gott übt selige Macht in Athen.
Zur Rede gesellt sich Musik, leicht sind die Gitarren gestimmt,
leicht regt sich des Wechselgesangs melodische Schlacht in Athen.
Da webt manch klassisches Wort, manch leuchtender Name sich ein,
denn großer vergangener Zeit Erinnerung wacht in Athen.
Und kühner erbrauset das Lied; wir spenden aus vollem Pokal
Den Herrlichen, die einst gekämpft, gesungen, gedacht in Athen.

© 2016 by Thomas von Kienperg. Alle Rechte vorbehalten.



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