Gar mannigfach sind die Arten, so man nachgerade unter dem Begriffe der Epik, also die erzählerische Gattung, subsumiert hat. Hier sind es vor allem die beiden Hauptformen des Romans sowie der Novelle, die unser besonderes Interesse erregen. Werden Handlung und Dialoge in einem Roman in gleichsam ausgebreiteten, deskriptiven Formen dargestellt, erweisen sie sich in der Erzählung geraffter und als von größerer Dichte. In der Konsequenz macht sich dieser Unterschied auch in der Länge bemerklich, weshalb Romane gewöhnlich von wesentlich größerem Umfange sind, als dies bei Erzählungen der Fall ist.
Nicht immer indes läßt sich eine exakte Zuordnung der verschiedenen Arten auf eindeutige Weise treffen, indem sich Merkmale des Romans auch durchaus in einer Erzählung wiederfinden können, ebenso wie ein Roman in manchen Passagen erzählerische Züge aufweisen kann. Wir sehen also, daß es auch sogenannte Mischformen gibt, die eine Zuordnung ihres Grundtypus im allgemeinen zwar gestatten, im besonderen aber auch Kennzeichen der jeweils anderen Art an sich tragen.
Eine solche Mischform stellt denn auch eine epische Kunstform dar, die ich „Tragédie en poésie“ genannt habe, weil in ihr nicht nur jene beiden Erzählarten formal miteinander verschmelzen, sondern sich inhaltlich außerdem die Handlungsdichte des Dramas, insbesondere der Tragödie, mit dem natürlichen Erzählton und den traditionellen Elementen der Epik verbindet; wie wir uns den Archetypus bzw. das Wesen einer Tragédie en poésie vorzustellen haben, wollen wir in den nachfolgenden Betrachtungen zu erhellen suchen.
Ihrem Grundtypus entsprechend, ist die Tragédie en poésie eine Novelle oder Erzählung, als die sie sich namentlich in ihren Rahmenhandlungen erweist, in welche ihre romanesken Elemente eingebettet sind. Dennoch ist sie durchaus keine Rahmenerzählung: denn während diese in der Regel eine ihrem Rahmen inhärente, ihrer Bedeutung nach zumeist sekundäre Handlung besitzt, dient der Rahmen der Tragédie en poésie in der Hauptsache als Medium, um einen oder auch mehrere fiktionale Erzähler auftreten zu lassen, welche eine in der Vergangenheit liegende Handlung nun in einer Art der Retrospektive oder Rückschau vortragen. Ein vorzügliches Merkmal der Tragédie en poésie besteht also in ihrer formalen Komplexität, indem ihr Aufbau einen fiktionalen Erzähler voraussetzt – ein Kunstgriff, der es gestattet, jederzeit von der Gegenwart in die Vergangenheit oder umgekehrt von der Vergangenheit in die Gegenwart zu reflektieren. Durch diesen Kunstgriff wird es also möglich, Vergangenes im Spiegel der Gegenwart oder Gegenwärtiges im Spiegel der Vergangenheit zu betrachten. Bei einem besonders komplexen Aufbau ist es sogar möglich, durch eine innere Verschachtelung der Handlungsstränge mehrere Erzähler en suite auftreten zu lassen, wobei allerdings eine gewisse Logik und Chronologie der Ereignisse beobachtet werden muß, um die Handlung nicht verwirrend oder inkohärent erscheinen zu lassen; wird diese Technik allerdings mit sicherer Meisterschaft geübt, hat der Verfasser den unschätzbaren Vorteil, gleich mehrere Projektionsflächen sowohl von Ort, Raum und Zeit vorzufinden, auf welche er die Handlung übertragen und damit facettenreicher und nuancierter gestalten kann.
Der Rahmen einer Tragédie en poésie ist also von dem einer Rahmenerzählung sehr verschieden: denn während hier zumeist nur eine relativ unbedeutende Nebenhandlung vorliegt, die in der Hauptsache der Ausschmückung und so gleichsam als Passepartout für die darin enthaltenen Haupterzählungen dient, ist er dort ein höchst effektiver, die dramatische Wirkung vorantreibender Kunstgriff, indem nämlich der Spannungsbogen beständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erzähler und Erzähltem hin- und herpendelt und die Erzählung sich auf solche Weise ihrer ganzen Wirksamkeit nach entfalten kann; diese Technik bietet außerdem den Vorteil, daß man jederzeit die Möglichkeit vorfindet, zwischen dem Vortrag in der ersten („Ich-Erzählung“) oder dritten Person zu changieren. Dieser Rahmen, der zu Beginn noch eher zufällig erscheint, erweist sich also als ein höchst wohlbedachter Kunstgriff, dessen hohe Vortrefflichkeit erst in der fortlaufenden Erzählung wirksam und dadurch evident wird.
Prägen der Rahmen sowie die von ihm getragene, allgemeine Handlung den novellistischen Grundtypus der Tragédie en poésie, so tragen die darin eingebetteten, sorgfältig ausgearbeiteten Erzählpassagen romanesken Charakter. Diese romanhafte Behandlung des Stoffes verrät sich insbesondere dort, wo sich die Dialoge häufen: wird der Dialog im allgemeinen doch stets dort gebraucht, wo im Interesse der Dynamik der Handlung ein weniger gedrängter und geraffter, sondern vielmehr methodischer Fortgang der Erzählung geboten ist. Diese Forderung zwingt den Erzähler dazu, die Konturen schärfer, die Handlung breiter, die Personen bestimmter zu zeichnen und damit zu einer gleichsam romanhafteren Behandlung des Stoffes. Aus dem bisher Gesagten schließen wir, daß das romaneske Element der Tragédie en poésie vorzugsweise bei jenen Passagen gebraucht wird, denen eine ganz besonders eminente Bedeutung für die weitere Entwickelung der Erzählung innewohnt. Es sind dies gleichsam die Schlüsselpassagen, aus denen der Leser in der fortgesetzten Erzählung seine Schlüsse und Folgerungen zieht, weshalb sich die Erzählung in der Chronologie der Ereignisse nach bestimmten Gesetzen erfüllen muß, deren Logik und inneres Wesen eben jene romanhaften Insertionen an die Hand geben; hierbei spielt das Momentum der Psychologie eine außerordentlich wichtige Rolle.
Eine gute Tragédie en poésie wird ihrem Namen vor allen Dingen dadurch gerecht, indem sie weniger auf die äußere Dramaturgie der Handlung, sondern vielmehr die innere, den Personen und ihren Handlungen inhärente Dramatik zielt und dem Leser fühlbar macht. Der Terminus „Tragédie“ bezieht sich also weit weniger auf eine vordergründige, per se dramatische Handlung ‒ wie man vielleicht glauben könnte ‒ sondern viel eher auf eine psychologische Dramatik, die durch die jeweiligen Gefühle und Gedanken der dramatis personae zum Ausdruck gelangt und eigentlich erst dadurch als Tragödie manifest wird – als eine Tragödie des Geistes, die umso erschütternder wirkt, als Tragödien des Geistes und der Seele stets unsichtbar sind und also plötzlich und unerwartet, wie ein Vulkan eruptieren und losbrechen können; nichts ist so gewaltsam und erschütternd wie die geistige Tragödie, deren Gang sich oftmals im Stillen, fern dem Auge der Allgemeinheit vollzieht und in ihrem plötzlichen, gewaltsamen Ausbruch viel mehr erschüttert als eine tragische Handlung, deren progressive Entwickelung man stets vor Augen hat. Gerade in letzterer Hinsicht bietet jener Rahmen, der einen fiktionalen Erzähler einführt, ungeahnte Möglichkeiten, die „Psychologie der Tragödie“ zu entwickeln, indem der Erzähler das Erzählte reflektiert und so die äußere Handlung gleichsam durch die Psychologie, ja eigentlich die „innere Seele“ dieser Handlung, wiederspiegelt.
Eines der bezeichnendsten Stilmittel einer Tragédie en poésie ist der Kontrast, das bewußte Spiel mit den Gegensätzen. Im selben Maße, als eine Zerstörung grausamer erscheint, wenn man eine schöne Vase, als wenn man einen derben Holzbottich zerbricht, so wirkt auch die Tragödie erschütternder, in je schöneren Farben man die Ereignisse malt, welche diese Tragödie herbeiführen; nun kommt der Begriff der Romantik ins Spiel, welcher zu ihrer, der Tragödie, Entfaltung eine ganz besondere Bedeutung zukommt.
Die Romantik ist nun zwar eine Richtung der Literatur, nach der man eine ganze Kunstepoche benannt hat, doch hat sie in unserem Sinne freilich eine etwas eingeschränktere Bedeutung, indem wir uns in der Tragédie en poésie lediglich diverser Stilmittel und einer Motivik bedienen, wie sie in der Romantik seinerzeit im Gebrauch waren. Die Stilmittel der Romantik werden als Organon gebraucht, den Spannungsbogen der Tragödie aufzubauen. Was in einer wohlschmeckenden Speise das Salz, ist in einer guten Tragédie en poésie die Romantik; sie bezeichnet gewissermaßen den Anfang oder das Ende eines Handlungsbogens. Ein beständig zum Zerreißen gespannter Bogen verliert irgendwann seine Spannkraft, ebenso wie eine Tragödie, die dem Leser niemals Zeit für die seinem Geiste notwendige Entspannung läßt, zuletzt ermüdet und den Geist erschlafft. Nur durch das wechselweise, alternierende Spiel der Kontraste und Gegensätze erhält die Tragödie ein rechtes Maß an Spannung aufrecht und behält der Geist die nötige Faßkraft, deren er bedarf, um dem Ablauf der Dinge auf konzentrierte Weise zu folgen. Infolgedessen muß das romantische Prinzip stets dort eingesetzt werden, wo es die meiste Wirkung tut, und das ist entweder am Anfang oder am Ende bedeutender Ereignisse – hier, indem sie dem Geiste die notwendige Erholung gewährt, die Fülle der Ereignisse zu verarbeiten und nachwirken zu lassen, dort, indem sie das Fundament bereitet, auf dem Ereignisse von tragischer Bedeutung gründen können. Ihr, der Romantik nämlich, kommt es zu, der Tragédie en poésie jenes Kolorit zu verleihen, das etwa der Maler eines Bildes gebraucht, um einen Gegenstand auf schöne und anmutige Weise darzustellen. Auf diesem Grunde kann der Dramatiker nun all seine Kunst aufbieten, das Prinzip des Dramas sowie der „Tragödie des Geistes“ zu entfalten, deren Wirkung eine umso größere sein wird, je größer die Gegensätze sind, die der Darstellende schafft. Wie also das romantische Element unserer Erzählung in der Analogie den Tänzen und sogenannten „Divertissements“ der barocken „Tragédie en musique“ bzw. „Tragédie lyrique“ entspricht, so dient es auch demselben Zweck: die Dramatik bewußt aus der Handlung zu nehmen, um sie wieder neu aufbauen zu können, und den Geist zu erfrischen, um ihn für die Kontinuität der tragischen Handlung tüchtig zu machen!
Wir sagten bereits, daß es uns in der Tragédie en poésie vorzüglich auf die innere Dramatik des Stoffes ankommt. Sie beschäftigt sich also nicht mit Entsprechungen des Bühnendramas, dessen Personnagen häufig überzeichnet und dessen Gegenstände, einer darzustellenden Handlung entsprechend, oftmals folgerecht auf äußerliche Dramaturgie zielen, sondern vielmehr mit unspektakulären, aus dem realen Leben gegriffenen Personen und Gegenständen, für deren Entfaltung es des psychologischen Aspektes bedarf, um dem Betrachter ihr verborgenes, dramatisches Potential vor Augen zu führen. Die Tragédie en poésie ist also, da sie nicht zur körperlichen Darstellung verpflichtet, viel näher am Leben selbst, da sie sich nicht, wie die Bühne, mit einem Pathos behelfen muß, um dramatisch zu sein, sondern zu ihrer Wirksamkeit nur die allgemeinen, humanspezifischen Tragödien des Geistes extrahieren muß, wofür die Psychologie oder, in unserem Sinne, die „psychologische Reflexion“ das Werkzeug ist. Wir möchten sagen, daß es für den Verfasser einer Tragédie en poésie eine ebenso schwere Aufgabe ist, das psychologische Momentum einer Tragödie auf rechte Weise zu erfassen, als es für einen Mimen auf der Bühne schwierig ist, „seinen“ Charakter auf glaubhafte und authentische Weise zur Darstellung zu bringen.
Wie bei allen Werken, so kommt auch dem Schluß der Tragédie en poésie stets eine ganz besondere Bedeutung zu: denn er ist es, der einen Leser befriedigt oder unbefriedigt zurückläßt! Man hat Beispiele, wo ein Werk seiner ganzen Länge nach auf die untadeligste Weise ausgeführt ist, aber ein ungenügender und mangelhafter, nicht im Einklang mit dem übrigen Werke stehender Schluß gar mancherlei verdirbt. Unter einem befriedigenden Schluß aber wollen wir keineswegs ein „Happy end“ verstehen: denn hat es schon allgemein nichts mit der Qualität eines Werkes zu tun, ob dessen Ende nun im konventionellen Sinne gut oder schlecht ausfällt, so wäre eine solche Annahme bei einer Tragödie, deren Wesen nun einmal in der Tragik der Geschehnisse liegt, noch viel absurder. Unter einem befriedigenden Schluß verstehen wir vielmehr ein Ende, das in seiner ganzen Logik und Stringenz, aber auch seiner Darstellung nach einer inneren Notwendigkeit folgt und ein Werk erst zu einer harmonischen und organischen Ganzheit rundet.
Letztes Ziel einer Tragédie en poésie ‒ und eigentlich jedes narrativen Werkes überhaupt ‒ sollte es sein, die Seele des Betrachters in einen Zustand zu versetzen, wo das Werk in ihm nachwirken und seine läuternde und befreiende Wirkung üben kann. Sie, die Tragédie en poésie, erreicht diesen Effekt dadurch, indem sie zuletzt aus der Vergangenheit des Erzählten wieder zur Gegenwart des Erzählers zurückkehrt und ihre tragische Wirkung nun auf den fiktionalen Erzähler überträgt. Eine auf solche Weise konstruierte Gegenwart läßt die Tragödie auch für den Betrachter gegenwärtiger erscheinen und versetzt dessen Seelenkräfte in Oszillation. Er, der Betrachter, wird dadurch in den Stand gesetzt, sich vermöge einer durch diesen Kunstgriff geschaffenen Unmittelbarkeit mit den Empfindungen und Gedanken des Erzählers zu identifizieren, und diese Identifikation, in welcher die Gefühle und Gedanken des Lesers mit jenen des Erzählers ineinanderfließen, erzeugt jene letzte und finale Harmonie und Einheit, die den Leser befriedigt und dieser also in einen Zustand versetzt wird, wo das freie Spiel der Gedanken und Empfindungen fortdauert, auch wenn die letzte Zeile bereits gelesen ist. Für einen gelungenen Schluß also sehen wir einen solchen an, der im Betrachter nachwirkt und ihn, den Betrachter selbst, nun dazu drängt, das Werk als Ganzes mit seiner Sympathie und Neigung zu umfassen; eine wohlausgeführte Tragédie en poésie gewinnen wir lieb, weil wir in ihr all das wiederfinden, was unser Menschsein ausmacht und wir uns durch sie erbaut, verstanden und belehrt fühlen.
Die vorzüglichen Merkmale der Tragédie en poésie lassen sich also in folgende Theoreme zusammenfassen:
Die Tragédie en poésie ist ihrem Wesen nach eine Erzählung, die in ihren substantiellen Schlüsselelementen partiellen, romanesken Charakter aufweist.
Die Tragédie en poésie besitzt eine Rahmenhandlung, deren hauptsächliche Aufgabe darin besteht, einen fiktionalen Erzähler in die Handlung einzuführen. Dieser Kunstgriff gibt dem Darsteller alle Möglichkeiten an die Hand, in Hinblick auf Ort, Raum und Zeit, aber auch in Hinordnung auf die tatsächliche wie grammatikalische Person des Erzählers zu changieren.
Die Tragédie en poésie ist eine „Tragödie des Geistes“ und bedient sich zu ihrer Darstellung der Psychologie. Da es ihr vorzüglich um die Darstellung der inneren Dramatik geht, bedarf sie zu ihrer dramatischen Entfaltung der psychologischen Dimension, deren Reflexion zumeist durch einen in der Rahmenhandlung eingeführten, fiktionalen Erzähler erfolgt.
Die Tragédie en poésie erzielt ihre erschütternde, dramatische Kraft durch die Schaffung von Gegensätzen. Im Kontrast, der zwischen romantischen Insertionen einerseits sowie der fortlaufenden, dramatischen Handlung andererseits entsteht, entfaltet sich jener Spannungsbogen, aus dem sich die finale Tragödie entwickelt.
Die Tragédie en poésie schließt mit der eigentlichen Tragödie, in der sich die ganze Handlung durch einen finalen, dramatischen Akt auflöst. Durch die Rückkehr aus der Vergangenheit in die Gegenwart wird das tragische Moment unmittelbar auf den fiktionalen Erzähler übertragen. Der finale Akt zielt auf ein geistiges, inneres „Nacherleben“ der Tragödie durch den Betrachter und eine damit einhergehende Katharsis.
Wir haben versucht, im Vorhergehenden die wichtigsten formalen, aber auch inhaltlichen Merkmale einer Erzählgattung zu bezeichnen, deren Inspiration aus mancherlei Ideen hervorgegangen ist, welche der Verfasser versuchte, in sinnfällige Formen zu gießen. Gewiß, kunsttheoretische Abhandlungen können viel dazu beitragen, uns ein Kunstwerk begreiflicher zu machen und seine Prinzipien zu erhellen, auf denen es begründet liegt, und dies allein war des Verfassers Absicht. Allein sie können dem Wesentlichen nichts hinzufügen: die verborgenen Tragödien der menschlichen Seele in ihrer ganzen Nacktheit zu zeigen und unser Herz zu berühren, uns selbst im Spiegel dieser Tragödien lieben und verstehen zu lernen und das Schicksal der ganzen Menschheit im einzelnen wiederzuspiegeln.
Salzburg, den 5. Oktober 2020
Der Verfasser
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