 LESEPROBE
Aus: Thomas von Kienperg, Anne blühte nur einen Sommer, Eine Melancholie, Roman
Dans l’hiver de nos ans
l’amour ne règne plus,
les beaux jours que l’on perd
sont pour jamais perdus.
Ich zog meine Weste an, fuhr in meine Stiefel und machte mich in der letzten Abenddämmerung auf den Weg: für meine Eltern war es in jener Zeit nichts Ungewöhnliches, daß ich spätabends noch das Haus verließ, sodaß es damit weiter keine Schwierigkeit hatte. Ich beschloß, der größeren Unauffälligkeit wegen einen Waldpfad zu wählen, den ich unter Zuhilfenahme einer kleinen Taschenlampe leidlich genug zu erhellen wußte. Gleichwohl konnte ich es im Dunkeln nicht immer vermeiden, daß ich hier über eine Wurzel, dort über einen Stein stolperte, sodaß ich mehrfach fast zu Fall gekommen wäre; das letzte Licht am wolkenverhangenen Himmel erstarb, und ein lauer, rasch aufkommender Nachtwind flüsterte gespenstisch in den Zweigen der Bäume. Eine milchige Stelle am Himmel ließ den hinter wallenden Wolken verborgenen, zunehmenden Halbmond erraten, und allerlei Nachtgeflügel schwärmte zwischen den Bäumen, sodaß ich manchmal wild emporschreckte: in regelmäßigen Abständen hörte ich in der Ferne gar schaurig ein Käuzchen rufen, und zuweilen glühte ein feuriges Augenpaar im dichten Unterholz, und hätte ich wahrhaft an Hexensabbate geglaubt, so wäre mir in der Tat keine Nacht dafür geeigneter erschienen als diese! Die mystische Stimmung der Nacht reizte meine Phantasie; in einer seltsamen Mischung aus Bangen und einer inneren Wollust, die ich nicht zu unterdrücken vermochte, schritt ich vorwärts und gelangte zuletzt an den von Anne bezeichneten Anger. Ich blickte auf meine Uhr und stellte fest, daß es eine Viertelstunde vor Mitternacht war! Ich schritt langsam über die fahl erhellte Matte und erreichte das alte Gemäuer, das öde und verwaist, von den Zweigen mächtiger Fichten überdräut, in die schattige Tiefe des Waldsaumes getaucht war; ich gewahrte den dunklen Schatten von Fledermäusen, die in der Finsternis den kleinen, mit einem Glockenstuhl gezierten Giebel umflatterten und schrak beim geringsten Geräusch tiefinnerlichst zusammen. ‒ War ich nicht verrückt, mich auf ein solch unsinniges Abenteuer einzulassen? Was sollte daraus werden, außer daß ich mitten in der Nacht unverrichteter Dinge wieder nach Hause ging? Nur gut, daß ich Martin nichts von meinem Vorhaben erzählt hatte ‒ denn ob er gleich für vieles Verständnis aufbrachte, er hätte mich wohl ausgelacht und schlechterdings für verrückt erklärt! ‒ Ein Windstoß rüttelte an den mächtigen Fichtenstämmen und ließ mich abermals zusammenschauern; in der Ferne wieder der schaurige Ruf des Käuzchens, und für einen kurzen Augenblick trat der molkichte Halbmond zwischen den Wolken hervor, die Fluren mit seinem silbernen Schein übergießend, um sich gleich darauf wieder hinter gespenstisch ziehenden Wolken zu bergen. Ich sah wie in geheimer Furcht rings um mich her, und in einer Regung jäh aufwallender, phantastischer Gedanken glaubte ich für einen kurzen Augenblick tatsächlich an die Möglichkeit des Spieles höllischer Mächte, ehe meine Vernunft wieder zu ihrem Recht gelangte und ich mich selbst eines lächerlichen, furchtsamen Toren zieh. Dies half, um mich zu innerlicher Ruhe zu zwingen: immer mehr ward ich der Überzeugung, nichts würde sich ereignen und ich erwog allbereits, einfach kehrtzumachen und meine Torheit niemand zu beichten, als eine Fledermaus so dicht an meinem Kopfe vorbeifuhr, daß sie mein Haar berührte und ich darüber in solchen Schrecken geriet, daß sich mir die Nackenhaare sträubten; im selben Augenblicke heulte und pfiff der Nachtwind durch den Tann, ich fuhr erschrocken herum, und als ich mich erleichtert wieder umwandte, weil es nur der Wind gewesen war, fiel ich vor Entsetzen fast in Ohnmacht, den unverhofft und wie aus dem Boden gewachsen stand mit einemmal Anne vor mir! Im fahlen, nächtlichen Zwielicht konnte ich erkennen, daß ihr Gesichtsausdruck blaß, tief und ernst war und sie ihre Augen mit schwarzer Farbe umrändert hatte; ich war zunächst so erschrocken, daß ich lange kein Wort hervorzubringen imstande war!
„Himmel, hast du mich erschreckt,“ würgte ich endlich hervor „wahrhaft, du kannst einem richtig Angst einjagen!“
„Ich habe gesagt, daß ich zur mitternächtigen Stunde hier auf dich warten werde! Hast du daran gezweifelt?!“
„Nun, Anne, um ehrlich zu sein ... “ ‒
Sie legte ihren Finger an die Lippen.
„Still, kein Wort weiter! Nimm’ jetzt all deinen Mut zusammen ... denn es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erden, als eure Schulweisheit sich träumen läßt! Hier, nimm’“, sagte sie, und mit denselben Worten hielt sie mir in der Dunkelheit einen kleinen Dolch entgegen, der aussah wie ein Opfermesser. Mich beschlich jetzt wahrhaftiges Bangen, denn ich hatte augenblicks erkannt, daß Anne sich wieder in jenem entrückten Zustande befand, den ich an ihr kannte und dem sie obendrein durch Zuhilfenahme irgendwelcher berauschender Mittel Vorschub geleistet zu haben schien. Ich muß zugeben, daß mich insgeheim schauerte, als ich sagte: „Anne, bist du von Sinnen?“
„Nimm’ den Dolch, er ist vom Meister!“ sagte sie unheimlich. „Du mußt mir damit hier, hier unterhalb des Bauchnabels einen Drudenfuß ritzen, bis das Blut hervorkommt. Dann mußt du mein Blut trinken, und der Hexensabbat beginnt!“
Sie zwang mir das Messer mit sanfter Gewalt in die Hand, bog sich über einen Felsblock, der unmittelbar neben der Kapelle auf dem Rasen lag und schob ihr Kleid in die Höhe. In der fahlen Helle sah ich ihren flachen Bauch, den Saum ihrer Brüste und den Bauchnabel, den sie bis zum Ansatz ihres Schoßes entblößt hatte. Eine Mischung aus Wollust, Furcht und Abscheu durchwogte mich.
„Anne, du bist von Sinnen und ich werde es niemals tun!“
„Tu’ es ‒ oder wozu bist du gekommen?! Tu’ es ... siehe, du mußt! – du mußt mir den Drudenfuß ritzen, sonst ist die rechte Stunde versäumt ... denn wenn du es nicht tust, höre, so kommt der Inkubus zu mir auf die Kammer, um seine alten Rechte einzufordern!“
Sie drängte mir ihren in der Dunkelheit wie Elfenbein schimmernden Leib entgegen.
„Hier ‒ hier mußt du den Drudenfuß einritzen“, seufzte sie, indem sie ihre Augen schloß und in wollüstigem Schaudern den Schnitt des Messers zu erwarten schien. Ein Zittern rann durch ihre Gestalt. Ich sträubte mich mit aller Gewalt gegen die blasphemische, heidnische Macht, die von diesem selbstinszenierten Opferritus ausging.
„Bist du ganz und gar von Sinnen, Anne? Du frevelst, hörst du, und was du tust ist Sünde vor Gott!“
„Tu’ es“, flüsterte sie, „komm’ und erlöse mich ... “ ‒
„Du Arge! ‒ wie kannst du Gott nur so sehr verlästern!? Du, deren Glaube mir stets so rein und wahr erschien!? Ach Anne, wie kannst du mich … wie kannst du dich selbst nur so sehr verhöhnen?!“
Ich schwieg, in der Erregung des Augenblickes den Dolch wie ein Unterpfand der Verdammnis von mich schleudernd, als ich bemerkte, wie Anne mit völlig verdrehten Augen, in zuckenden Konvulsionen sich auf dem Steine wand. Mich faßte wilde Panik an; nicht viel fehlte, und ich hätte sie in meinem sinnverwirrten Zustande von einem bösen Dämon besessen geglaubt und wäre wohl schlechterdings davongelaufen, hätte mich nicht ein letzter Rest von Vernunft zurückgehalten und bestimmt, den Dingen mit Mitteln der Vernunft auf den Grund zu gehen. Langsam und noch immer auf das äußerste erregt, trat ich auf Anne zu, die noch immer wie im Fieber zitterte und augenscheinlich in höchster Entrückung irgendwelche entstellten Worte vor sich hinmurmelte; sie schien sich die Lippen blutig gebissen zu haben, Schaum und Geifer standen vor ihrem Mund, während ihre Augen seltsam verdreht und glasig in den dunklen Himmel starrten. Es war ein Anblick, der einem wahrhaft Angst einflößen konnte, und erst nach und nach gewann die Vernunft in mir die Oberhand, ehe ich zuletzt erkannte, daß Anne unter dem schweren Einfluß irgendwelcher berauschender Mittel stehen mußte!
„Wie kannst du mir so etwas antun, Anne!“ rief ich, mich um die Ärmste auf dem Stein bemühend. Zuletzt gelang es mir, sie aus ihrer unbequemen Lage zu befreien; sie lag an meiner Brust, schlaff und leblos wie eine Puppe, sodaß ich ihretwegen in wahrhafte Nöte geriet; ich redete auf sie ein, suchte mich ihr bemerklich zu machen, ich rüttelte und schüttelte sie, faßte sie an den Schultern, rief immer wieder besorgt ihren Namen; endlich gelang es mir, sie emporzurichten. Ich führte sie, auf mich gestützt, seitwärts einer hohen Tanne entgegen, wo sie sich unter heftigen Eruptionen übergab. Immerhin schien es damit besser zu werden; eng an mich angelehnt, gelang es mir, sie langsam über den Anger nach dem Gehöfte zu führen; ich fragte sie mehrmals, ob sie mich erkennen würde; sie nickte geistesabwesend, doch schien sie weiterhin außerstande, ein vernünftiges Wort zu sprechen. Die Ärmste begann mich zu dauern, da ich zu erkennen glaubte, wie sehr sie an sich selber litt; ein unbeschreibliches Mitleiden, aber auch meine lang verhaltene Liebe zu ihr stiegen, unberührt von den befremdlichen Geschehnissen, in meiner Seele empor! Ich faßte sie, bettete sie behutsam an meine Brust und sprach ihr in beruhigenden Worten zu; beim Gehöfte angekommen, wußte ich lange nicht, wie ich die Unglückliche in das Haus schaffen sollte, ohne die längst schlafenden Großeltern zu wecken, da mir vor allem anderen daran gelegen war, den peinlichen Vorfall vor jedermann geheimzuhalten. Ihre Taschen durchwühlend, glückte es mir endlich, einen Schlüssel freizulegen, der sich als der für die Hoftüre passende herausstellte; ich öffnete die Eingangspforte, und behutsam und vorsichtig, jedes unnötige Geräusch vermeidend, brachte ich sie über die steile Holztreppe, die ein über das andere Mal verdächtige Knarrgeräusche von sich gab und welche sie mir notdürftig genug als den rechten Weg bezeichnet hatte, auf ihre Kammer. Ich war von Herzen froh, als ich dort das Licht aufsteckte und Anne auf das Bette niedersinken ließ; ich versuchte abermals mit ihr zu reden, doch kein Wort kam über ihre blassen Lippen. Ich begann, sie sorgsam ihrer Überkleider zu entledigen und die häßliche Bemalung von ihren Augen abzuwischen, und als sie zuletzt im Nachtkleide, noch immer im Zustande geistiger Entrückung, halb zusammengesunken vor mir auf der Bettkante saß, da überkam mich ein solches Mitleiden mit dem armen, verführten Geschöpfe, daß ich nicht anders konnte als sie in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Ach Anne, wie hab’ ich dich so lieb!“
Sie blieb weiterhin in ihrem apathischen Zustande, doch schien bei meinen Worten ein feines Lächeln über ihre Züge zu gleiten. Ich konnte mir selbst keine Rechenschaft darüber geben, denn nach allem, was geschehen war, hätte ich wohl weit eher Ursache gehabt, mich mit einem Gefühle des Abscheus und des Ekels von der Unglücklichen abzuwenden, jedoch ‒ ich empfand Angst, Mitleid, Sorge ... alleine ihretwegen! Ja mehr noch ... ich liebte dieses Mädchen, ich liebte sie gerade deshalb, weil sie so sehr an sich selbst litt und ich allmählich zu begreifen schien, welch heroischen Kampf sie gegen sich selbst, ihr dämonisches Ich, führte ... ich ließ meinen Blick rings durch die Kammer schweifen und sah in einer dunklen Ecke neben dem Kleiderschrank ein Poster der schwedischen Death-Metal-Gruppe „Entombed“ düster von der Mauer blicken ... sah das schlichte, hölzerne Kruzifix oberhalb des Bettes, mit Wacholderzweigen geschmückt ... zuletzt den kleinen, ärmlichen Nachtschrank mit der Bibel obenauf ... und dieses Bild drang mir so innerlich in die Seele, daß ich Anne weit eher für eine Heilige gehalten hätte als für ein grundverdorbenes, teuflisches Geschöpf! Ich sprach ihr nun abermals in begütigenden, beruhigenden Worten zu ‒ ihr versichernd, daß ich nichts, was heute geschehen war, jemals einer Menschenseele anvertrauen und stets als mein Geheimnis behüten würde; daß ich immer für sie da wäre, so sie meiner bedürfe, und zuletzt ‒ vielleicht weil es mir in ihrem gegenwärtigen Zustande der Schwäche leichterfiel ‒ ihr eingestand, daß ich sie schon lange liebgewonnen hätte und ich ungeachtet aller Hindernisse, die sich uns in den Weg stellten, niemals aufhören würde, ihr Bild in meinem Herzen zu tragen. Behutsam deckte ich sie zu; sie lag nun ruhig und atmete tief und regelmäßig, und als ich nach einigen Minuten fast regloser Gegenwart bemerkte, daß sie eingeschlafen war, bemächtigte sich meiner ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit; ich trat an das geliebte Mädchen heran und hauchte ihr einen innigen Kuß auf die Stirn. Ich löschte das Licht, schloß leise die Kammertür und tastete mich unter dem Schein meiner Taschenlampe langsam die zuweilen laut knarzende Treppe hinunter; durch die nunmehr unversperrte Hoftüre trat ich meinen Rückzug an und war in meiner Seele von dem soeben Vorgefallenen tiefinnerlichst erschüttert! ‒
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