In der neueren Zeit kann innerhalb unserer deutschen Sprache vorzugsweise ein Hang zu jener Art von Anglizismus beobachtet werden, der allmählich Eingang in die erstere zu fordern, ja diese endlich mit seinem schleichenden Gifte zu durchdringen sucht. Ferner scheint die Groß- und Kleinschreibung für eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Leuten schlechterdings nicht mehr zu existieren; zu allem Überflusse hat man unlängst sogar eine sogenannte „Rechtschreibereform“, eine Novelle in der bislang bestehenden Rechtschreibeordnung, ins Werk gesetzt, wo die gesamte sich über Jahrzehnte konstituierte Orthographie gleichsam mit einem Schlag über den Haufen geworfen ward. Die Interpunktion endlich stellt in dieser babylonischen Sprachverwirrung einen Punkt dar, welcher von den Leuten parforce ignoriert zu werden scheint; ja, bald wollte es scheinen, als hätte es dergleichen nie gegeben. Sind dies nur einige der augenfälligsten Dinge, welche im Zusammenhange mit dem gegenwärtigen Sprachverfall zu observieren sind, so fänden sich ihrer gewiß noch ein halb Dutzend weiterer; allein es erscheinen uns Dinge wie etwa die allgemein gebräuchliche Vulgärität in der Sprache oder der ubiquitäre Hang zum oberflächlichen Gebrauch derselben als des näheren Behandelns nicht würdig.
Wir wollen indes, um die näheren Verhältnisse und das Bewandtnis der deutschen Sprache mit der Entwicklung der Gesellschaften überhaupt zu erhellen, uns zunächst ein klein wenig mit der diachronen Entwickelung derselben in der Geschichte, wenn auch nur in gedrängter Form, auseinandersetzen. Unsere deutsche Sprache hat sich demnach, gleich vielen anderen, aus jenem gemeinsamen Stamme der indogermanischen Sprachen heraus entwickelt. Verschiedene sprachhistorische und philologische Untersuchungen setzen die Anfänge unserer Sprache etwa in die Epoche um 750. Man neigt heute zu der allgemeinen Ansicht, daß die deutsche Sprache sich weniger als ein Zweig namentlich des Germanischen, sondern vielmehr als ein Resultat jenes mannigfaltigen Sprachreichtums der Völkerwanderungszeit begreifen läßt. Vielmehr gewiß ist allerdings, daß die eigentlichen Ansätze zur althochdeutschen Sprache, von den Alemannen ausgehend, etwa um die Mitte des achten Jahrhunderts von den vorzugsweise fränkisch-baierischen Völkerschaften des karolingischen Reiches gelegt wurden. Dieselbe Epoche des Althochdeutschen, das ohngefähr jener des Frühmittelalters gleichkommt, schließt um 1100 und wird schließlich vom Mittelhochdeutschen verdrängt, das bis zum ausgehenden Hochmittelalter, ja sogar noch darüber hinaus, allerwärts Verwendung fand. Während beider Epochen fand sich bereits jener Gedanke zur Schaffung einer gemeinsamen Hochsprache in Form der theodisca lingua [1] vor. In jene nur etwa zweieinhalb Jahrhunderte währende Epoche der mittelhochdeutschen Sprache fallen auch so bedeutende kulturgeschichtliche Zeugnisse – namentlich aus dem Bereich der episch-höfischen Heldendichtung – wie etwa das Nibelungenlied, der Parzival Eschenbachs oder die Lieder und Gedichte eines Walther von der Vogelweide. Bereits in der Zeit des früheren Spätmittelalters erfolgte die Entwickelung zur neuhochdeutschen Sprache, welche als Grundlage für unsere heutige, deutsche Hochsprache angesehen werden darf. Dieselbe erreichte zum Ende des Mittelalters einen Kulminationspunkt, woraus sich schließlich ihr umfassender Gebrauch als Amts- und Schriftsprache durchsetzte, sie in der Folge hinsichtlich ihres Wertes und ihrer Geltung jenen Anspruch einer Weltsprache erheben konnte. Die Übersetzung der Heiligen Schrift durch Martin Luther im Jahre 1522 fällt in diese Epoche und ist ein bedeutender Beweis für die bereits damals vollendete formale Anwendung unserer Schriftsprache, und nur höchstes Genie im Verbunde mit göttlicher Gnade vermochten es, daß ein solch Werk zur Ausführung gebracht werden konnte. Damit genug, wollen wir uns nach den vorangegangenen, kurzen Ausführungen über die Entstehung und Entwickelung unserer Sprache wieder den eingangs erwähnten Punkten zuwenden.
Erstaunlich genug indessen ist es, daß man eine Hochsprache, welche über ein Jahrtausend bedurfte, um ihrem vollen Glanz und herrlichen Vollkommenheit entgegenzuwachsen, offenbar innerhalb weniger Dezennien einer beinahe vollständigen Degeneration preiszugeben verstand; weniger erstaunlich freilich, wenn man sich vor Augen hält, daß Gegenstände, deren Werden es oftmals vieler Jahrhunderte und wohl noch länger bedurfte, gewöhnlich binnen kürzester Zeit zerstört werden können: so hindert uns zum Exempel nichts daran, diese Skulptur von Polyklet [2], binnen tausender Stunden im Schweiße seines Angesichtes entstanden, mit einem einzigen Beilhieb zu zermalmen; oder jene hochanstrebende Eiche, welche vielleicht noch den Kelten als Opferstätte gedient, mit dem nämlichen Beile in einer kurzen Stunde zu fällen. Doch damit genug: im Zerstören war der Mensch eben schon von jeher weit findiger als im Erschaffen.
Wendet man den Blick dieser Art von Betrachtung zu, so darf es nicht weiter verwundern, wenn unsere einstmals so blühende, deutsche Sprache nachgerade ihrer allmählichen Auflösung entgegenschreitet. „Aber“, so werden jetzt viele bestürzterweise ausrufen, „unsere Sprache muß sich doch weiterentwickeln; nicht innehalten dürfen wir, und ein ganz und gar natürlicher Prozeß der Entwickelung ist’s, welchen sie gegenwärtig durchschreitet! Moderner und umgänglicher wird sie werden, unserer Zeit gemäß; nur ein Ewiggestriger kann wollen, daß wir uns mit einer Sprache herumschlagen, die uns schon längst entfremdet geworden und deren Wesen uns in weite Ferne entrückt! Wir wollen sie im neuen Gewande, aus ihrer Asche gleichsam verjüngt erstehen lassen, auf daß sich der moderne und gebildete Mensch ihrer seinen Absichten gemäß bediene!“
Nur die allerleidigste Passivität einer kränklichen Liebhaberei kann sich einer solch törichten wie hybriden Auffassung der Dinge befleißigen. Freilich hat man, was den Eingang von fremdländischem Wortschatz in unsere Sprache betrifft, schon allezeit Sorge getragen, daß diese vermittelst entsprechender Ausdrücke und Begriffe aus anderen Sprachen fortwährend bereichert und ergänzt ward. Für dergleichen waren vortreffliche Männer und Gelehrte verantwortlich, Kenner der alten Gelehrtensprachen, welche Begriffe aus jenen Sprachen aufgriffen und diese auf solche Weise in gleichsam germanisierten Stammformen dem deutschen Sprachschatz zuzuführen verstanden. Auch lassen sich von diesen Begriffen allerlei derivativa herleiten; wodurch der Gebrauch all ihrer Formen, in der Flexion nämlich, möglich wird. Auch wurden jene Formen der deutschen Sprache in philologischer Hinsicht sorgfältigsten, etymologischen Forschungen gemäß angepaßt, welches kein buntes Durcheinanderwerfen jener Begriffe gestattet, sondern deren Gebrauch ausschließlich dem genauen Kenner seiner Muttersprache einerseits sowohl als der klassischen Sprachen andererseits vorbehält. Nicht so indes, was jenen völlig eitlen Anglizismus, jenen völlig kränkelnden Hang zur Anglophilie in der deutschen Sprache betrifft: abstrahieren wir hier noch von dem Umstande, daß jene, so sich dieser neuartigen Form des Sprachgebrauches befleißigen, einer vernünftigen Kenntnis des Angelsächsischen für gewöhnlich ermangeln, so besteht deren Prinzip lediglich in einem launenhaften Durcheinanderwerfen, einem reinen Ersetzen deutscher durch angelsächsische Begriffe; ja, häufig wird jene Art von Begriffen sogar einfach aus dem Angelsächsischen rein übernommen, und man gibt diesen überhaupt keine korrespondierenden, deutschen Begriffe an die Hand, sodaß man sich schlechterdings gezwungen sieht, sich jener kränkelnden, sprachlichen Neophyten zu bedienen. Diese ganze erbärmliche Operation aber wird unter dem Deckmantel einer „modernen, zeitgemäßen Sprache“ verkauft, und es finden sich Esel genug, die derlei aberwitziges Geschwätz für bare Münze nehmen, um den Stall vollzumachen. Da wird denn mit eitel Anglizismen um sich geworfen, daß die englischen Fischweiber am Billingsgate billig erröten würden: daß sie sich indessen selbst zu Narren stempeln, dessen werden sie nicht gewahr, beherrscht doch rings um sie herum, gleich ihnen selbst, kaum jemand vernünftig die eigene Muttersprache, von Angelsächsisch freilich erst gar nicht zu reden. Nur sooft sie, entgegen aller Erwartung, von irgendwelcher Seite her einen Tadel erfahren, des Inhalts etwa, was dieses Kauderwelsch denn nun überhaupt zu bedeuten habe und ob sie wenigstens denn eine jener beiden Sprachen auf vernünftige Art und Weise zu sprechen imstande wären – dann sehen sie sich bisweilen in ihrer indifferenten Lethargie gestört; wehe jenem aber, der sich eines solchen Vorwurfs erkühnte. Ihm wird man auf die dreisteste und unverschämteste Weise zu entgegnen wissen, in Gemeinschaft mit jenen selbsternannten „Gralshütern“, jenen Schweinehirten unserer deutschen Sprache, welche durchaus auch auf Universitäten und dergleichen Einrichtungen ihr Unwesen treiben und nicht selten mit Doktorhut und Professorentitel einherstolzieren – und denen es auch ansonsten an kaum etwas gebricht – den Verstand ausgenommen. Das notwendige Resultat von derlei Bestrebungen liegt mit erschreckender Deutlichkeit bloß; denn wenn ein Bewunderer und Kenner unserer schönen deutschen Sprache, dem Goethe und Schiller nicht fremd sind, als ein sprachlicher Troglodyte verlacht wird, dann ist die Sache gewissermaßen bereits auf die Triarier [3] gekommen.
Ferner sei an dieser Stelle, um den vorangegangenen Punkt gewissermaßen zu beschließen, auf jene neuartige Angewohnheit verwiesen, die Groß- und Kleinschreibung gänzlich zu ignorieren, oder, welches noch wunderlicher ist, die Mundart zur Schriftsprache zu erheben. Bei solchen Gelegenheiten werden ganze Sätze, ja ganze Abschnitte in beharrlich-bekannter Manier in einem durchgeschrieben: nur Minuskeln gebrauchend, selbstredend ohne irgendwelche Satzzeichen und überdies häufig noch im Idiom eines geistigen Wickelkindes; man bringt es gerade einmal dahin, die einzelnen Worte durch Abstände zwischen denselben kenntlich zu machen, um das ganze Kauderwelsch nicht etwa für ein Kryptogramm, für eine verschlüsselte Chiffre halten zu müssen. Sind derlei Verhältnisse an sich schon ganz und gar unzuträglich, so trägt, damit nicht genug, die jüngst vorgenommene „Rechtschreibereform“ noch ihr bescheiden Scherflein dazu bei, diesen Zustand gar noch zu verschlimmern. Wie wir uns leicht denken können, stiftet dieselbe nur umso mehr Verwirrung: hatte man von der Orthographie im allgemeinen ehemals nur eine höchst verworrene Vorstellung, so ist diese Verwirrung durch die Reform allenfalls noch gestiegen. Es hat in der Tat den Anschein, als wäre man bestrebt gewesen, eine größtmögliche Verwirrung in der deutschen Sprache zu stiften: ein vollkommener Indifferentism ist an die Stelle einer genau bezeichneten, orthographischen Gesetzmäßigkeit getreten, und vielmehr scheint es nun, als wäre jegliche Form der Rechtschreibung zulässig, keine dagegen falsch. Wird derselbe Unfug auch auf unseren Schulen nicht eben doziert, so zeigt sich der eine oder andere unserer Dozenten in bezug auf diese Reform nicht wohl unterrichtet. Weiß er aber selber nicht, was er denn nun lehren soll – wozu soll er dann überhaupt lehren? Wir wollen keineswegs behaupten, daß jener Vorwurf auf all unsere Dozenten zuträfe – die Majorität der Lehrerschaft indessen ist zur Vermittelung und Weitergabe unseres gemeinsamen Kulturgutes Sprache schlechterdings ebenso ungeeignet wie unfähig.
Dies alles soeben Vorgebrachte stellt nur einen unwesentlichen Teil jener Komplexität, wie sie uns unsere deutsche Muttersprache vor Augen führt, dar. Was vermag nun zur Rettung derselben getan werden, um sie vor einem vollständigen Zerfall zu bewahren? Wir würden in Rücksicht auf unsere Sprache mancherlei vermögen, jedoch bedürfte es in diesem letztern Falle freilich eines gemeinschaftlichen Zusammenwirkens sämtlicher unserem deutschen Sprachkreise zugehörigen Kräfte; daß es sich hierbei nicht eben bestenfalls um eine schöne Chimäre handelt, davon dürfte wohl die Naivität selbst sich entblödet haben. Recht eigentlich bleibt nur jene nüchterne Tatsache übrig, daß die Rettung unserer kostbaren, deutschen Hochsprache wohl auf lange Sicht nicht zu betreiben sein wird; zu viele Faktoren arbeiten dagegen, und unbemerklich hat sich die Götterdämmerung über die einstmals so reichen und üppigen Weidegründe unserer würdigen, an Schönheit so reichen, deutschen Sprache gesenkt. Doch verzaget nicht, ihr, ihr alle, die ihr ebenso jenen sträflichen Frevel erleiden müßt: noch lebt sie, noch gibt es sie, bewahrt als das geistige Erbe unserer Väter, beseelt von jenen, die noch eine tiefe Ehrfurcht und Verehrung für den uns innewohnenden Logos empfinden und welche bestrebt sind, jenes wunderschöne Zeugnis einer einst so lebendigen, an Schönheit und Anmut so reichen Sprachkultur auch in fernern Tagen noch unverfälscht unseren Kindern zu übermitteln. Freilich sind es ihrer nur wenige, welche sich an diese große Aufgabe gemacht haben: doch die Besten sind es – jene nämlich, welche in der Sprache nicht nur ein schlechterdings notwendiges Instrument zu unserer wechselseitigen Verständigung sehen, sondern den Logos eben – jenen flammenden Logos, jenes Wort, das am Anfang war und jetzt ist und noch sein wird bis zum Ende aller Tage, bis alles Wort im letzten der Menschen auf immer verstummt sein wird.
[1] Ursprünglich vom germanischen theoda (= Stamm) sowie dem althochdeutschen diot (=Volk) gebildet, wurde dieser Begriff später latinisiert und bezeichnete zunächst die Gesamtheit der germanischen Volksstämme, dann aber auch das damit verknüpfte Bestreben zur Schaffung einer gemeinsamen Hochsprache.
[2] Polyklet war ein (in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr.) im antiken Griechenland lebender Bildhauer von höchster Meisterschaft. Neben zahlreichen Kunstwerken, vorzüglich Darstellungen von Menschen- und Götterbildnissen, manifestierte er in einem von ihm geschaffenen Kanon die Maßverhältnisse des menschlichen Körpers.
[3] Als Triarier bezeichnete man im alten Rom die erfahrenen, in der dritten Schlachtreihe kämpfenden Soldaten. Mußten diese in den Kampf eingreifen, dann war die Sache sprichwörtlich „auf die Triarier“, also gleichsam zum Äußersten gekommen.
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