Unlängst erst ist meine Aufmerksamkeit wie von ohngefähr auf ein recht reizendes Büchlein gelenkt worden; so wenig ich nun zunächst über seinen Inhalt Bescheid wußte und so wenig ich auch Gelegenheit hatte, dieses meiner Anteilnahme zu versichern, so überzeugt war ich davon, es möge einiges an Nützlichem und Gelehrsamem, wo nicht für die höhern geistigen Bestrebungen des Menschen, so aber doch wenigstens für eine geistvolle Unterhaltung desselben, bereithalten. Und richtig habe ich das anmutige Werk des Monsieur Prévost [1] innerhalb kürzester Zeit mir zu eigen gemacht – nicht jedoch, ohne in bezug auf dasselbe einige höchst bedeutsame Betrachtungen anzustellen, die ich mich nicht enthalten möchte, dem gebildeten und aufmerksamen Leser mitzuteilen.
Die Geschichte handelt von einem gewissen Chevalier des Grieux, einem jungen Herrn von Adel, der sich eines Tages bis über beide Ohren in eine ebenso junge und hübsche wie vergnügungssüchtige Dame verliebt. Dieses Begegnis bezeichnet gleichsam den Anfang einer Kette von Verirrungen und Abwegen, auf welche derselbe junge Mensch von Stund an geraten sollte. Nun wollen wir, um dem Jünglinge gewissermaßen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, noch anmerken, daß der Chevalier bis zu jenem Ereignisse stets den untadeligsten Lebenswandel geführt hatte und außerdem fleißig und gewissenhaft mancherlei Studien betrieben und beständig um sein geistiges Voranschreiten Sorge getragen hatte. Wie es nun kam, daß er innerhalb der kürzesten Frist von einem jungen, an Wesen und Schönheit bezaubernden jungen Geschöpf mit Namen Manon Lescaut in das liederlichste und wildeste Weltleben gestürzt ward, davon erzählt die folgende Geschichte. Bald schon nämlich hatte er all seine Studien aufgegeben; von ihrer außerordentlichen Schönheit bestrickt und stets bereit, all ihren raffinierten Wünschen zu willfahren, hatte er gar bald sein ganzes Vermögen durchgebracht. Wir haben bereits eingangs erwähnt, daß Manon einen außerordentlichen Hang zum Vergnügen und zu jeglicher Art von aufwendigen Unternehmungen besaß; zudem war sie von geringer Herkunft; die Natur ihres Standes war also wenig dazu angetan, sich einem solchen Leben, wie sie es zu führen verlangte, ohne weitere Umstände hingeben zu können. Wir sehen also hier bereits sehr deutlich jenen verderblichen Einfluß der äußeren Schönheit, der uns so häufig verblendet hält und sich uns ganz anderen Gegenständen zuwenden läßt als jenen, welche uns die Vernunft a priori als unseres Strebens würdig bestimmt.
So kam denn, was unvermeidlich schien: des gesamten Vermögens ledig, war er nun gleichsam gezwungen, auf andere Mittel zu sinnen, mit deren Hilfe er sich des Besitzes der schönen Geliebten auf Dauer versichern konnte! Auf diese Weise begann er, der ihretwegen bislang nur den Verschwender und Müßiggänger gespielt hatte, sich auf jene Art von Geschäften einzulassen, worauf ein anständiger Mensch gewöhnlich kaum verfallen konnte: er fing zunächst an, von anderen zu borgen, Schulden zu machen, endlich aber – durch den zwielichtigen Bruder seiner Geliebten verführt und mit einigem Erfolg – am Spieltisch zu betrügen!
Nun gilt es aber insbesondere hervorzuheben, daß der Chevalier des Grieux einen treuen und aufrechten Freund mit Namen Tiberge besaß; jener Tiberge war in der Tat eine außergewöhnliche Erscheinung, und es muß zu seinem Ruhme gesagt werden, daß seine freundschaftliche Großmut beinahe ‚an die berühmtesten Beispiele des Altertums heranreichte‘. Er führte ein aufrechtes und untadeliges Leben und war in seinem ganzen Sinnen und Trachten immer nur auf die Gesetze der Vernunft und jene seines festen Glaubens bedacht. Tiberge war es denn auch, der den Chevalier mehrmals ermahnte, doch endlich das Weib fahren zu lassen und sich wieder seinem einstigen, geistigen Leben zuzuwenden; doch jenem, bestrickt von den anmutigen Reizen seiner Manon, fehlte jede Kraft zu einem derartigen Schritte, und so geschah es, daß er den tugendsamen Freund – bei welchem er sich in den wiederholten Nöten, in welche er durch die Umstände seines verworrenen Leben geriet, mehrmals Hilfe erbat, indem er ihn häufig um Geld anhielt – oftmals enttäuschte, indem dieser nämlich gar bald merken mußte, daß es jenem, obzwar er es oft leichtfertigerweise gelobte, nicht Ernst damit war, sein auf Abwege geratenes Leben wieder in die rechten Geleise zu bringen und es ihm nur um sein Geld zu tun war, sowie er dessen bedurfte. Ansonsten aber blieb alles Verwenden des Freundes und alle Ermahnungen fruchtlos, denn der Chevalier kam nur, sooft er Geld benötigte und nicht mehr aus noch ein wußte; seine frevlerische Gesinnung zu ändern freilich lag ihm ferner denn je.
Auf diese Art und Weise geriet der Chevalier immer noch tiefer in die Fänge der schönen Manon, die, wenn sie gleich von ausschweifender und verschwenderischer Lebensart, doch im tiefsten Grunde ihres Herzens ein liebevolles und herzensgutes Wesen war; allein es gebrach ihr allenthalben an mutiger Kraft, jenen mannigfaltigen Verlockungen und Verführungen, wie es uns ein vornehmes Leben zu bieten vermag, erfolgreich widerstehen zu können! Zuletzt fing sie gar an, den armen Chevalier mit andern, vornehmen Herren zu betrügen, sooft sich ihr die rechte Gelegenheit dazu bot, und jener geriet dadurch von einer Not in die andere; er vermochte indessen nicht von Manon zu lassen, welche sich in den Stunden ihrer Reue dann dem Chevalier gewöhnlich zu Füßen warf und die herzzerreißendsten Tränen darüber weinte, daß sie von nun an ganz bestimmt nie mehr etwas Unrechtes oder Unziemliches tun wolle und nur ihn, den Chevalier, alleine über alle Maßen liebe! So konnte weder der eine noch die andere vom anderen lassen, und auf solche Weise verquickte sich die Schuld, welche beide durch dieses ihr ärgerliches Verhältnis auf sich geladen hatten, immer noch tiefer. Der treue Tiberge freilich versäumte es nicht, dem Freunde zuweilen die ernsthaftesten Vorhaltungen zu machen, wie um alles in der Welt er um eines Weibes willen allen höhern Verpflichtungen der Menschen dergestalt entsagen könne; zuletzt, als der wortbrüchige Chevalier den standhaften Freund wieder einmal enttäuscht hatte (und sich sogar mit Manon über dessen Einfalt lustig gemacht hatte), brach auch jener mit ihm, seinem verlornen Freunde vorstellend, wie schändlich dieses sein Leben denn nun eigentlich geworden sei und er mit seiner Hetäre gehen solle, wohin zu gehen es immer ihm nur beliebe; zu ihm jedoch brauche er fortan nicht wieder zu kommen, es sei denn, er könne ihm Beweise einer wundertätigen Wandlung seiner frevelhaften Gesinnung hinterbringen.
An solchen oder ähnlichen Stellen des selben Buches konnte ich nicht umhin, mich ein über das andere Mal über das verstockte Verhalten des Chevaliers zu ärgern – ein Odium übrigens, welches das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gleichsam zu geleiten schien. Wie aber sollen wir Gesinnungen nennen, die sich beständig über gutgemeinte Ratschläge von Freunden hinwegsetzen und jene auch noch in freventlicher Weise verlachen, wie einfältig und töricht sie doch in ihrem sinnlosen Streben nach aller Wahrheit wären – welche ja doch am Ende zu nichts weiter nütze wäre denn sie als eitlen Tand zu Grabe zu tragen, sobald sie einmal ausgedient hätte – und wir in Ansehung solcher Nichtigkeiten darüber versäumt hätten, das irdische Glück und seine zahllosen Wonnen in Fülle zu kosten. Dies alleine sei das wahre Glück, und ein ausgemachter Narr wäre jener, welcher bei all seinem fruchtlosen Bemühen, über Gottes und des Menschen Weisheit die rechte Einsicht und Kenntnis zu erlangen, nur im unendlichen Elend seiner armseligen Betrachtungen zugrunde gehe und einem einzigen, großen Truge und Irrtume lebe. Sehr deutlich erkennen wir hier, wie gar gefährlich es ist, einer solchen paralogistischen Ideologie zu verfallen; denn es scheint wohl von Natur aus verständlich, wenn wir behaupten, daß wir zwar von einem Verständnis a priori, also von der reinen Vernunft her durchaus auf Objekte der Realität schließen können – so wie es in der Geometrie beispielsweise schon seit jeher gepflogen wird. Das letztere geschieht rein synthetisch, und schon vergleichsweise schwieriger will es uns erscheinen, wollten wir es etwa unternehmen, den von lauter Endlichkeiten befangenen Verstand von den Gegenständen des Empirismus jenen der reinen Vernunft zuzuwenden – was dann allerdings analytisch geschähe, was ja so recht eigentlich für gewöhnlich eine höchst empirische Operation ist. Genug davon – wir könnten hier wohl noch so manch weiteres Phänomen der transzendentalen Logik anführen – allein es ist dergleichen ein zu weites Feld hiefür, und wir wollen doch unterdessen weiter zusehen, wie die Geschichte für den armen Chevalier sich denn nun endigte.
Nachdem der wackere Tiberge mit dem letztern seines anrüchigen Lebenswandels wegen sich überworfen hatte, landeten der Chevalier und seine Geliebte zuletzt beide in einer Art Besserungsanstalt, einem Hospital – weil sie nach einem gemeinschaftlich begangenen Betruge, den sie an einem von Manons zahlreichen Liebhabern verübten, festgesetzt wurden. Am Ende wird der arme Betrogene nach einer Flucht aus dem Hospital durch die unglücklichen Geschicke sogar noch zum Mörder. Die Erzählung endet damit, daß sie beide durch die Macht der äußeren Umstände gezwungen werden, sich nach der Neuen Welt, nach New Orleans in Louisiana, einzuschiffen. Zuletzt, abermals vom Unglück verfolgt, stirbt Manon in den Armen ihres Chevaliers, und dieser wird darauf von seinem treuen Freunde Tiberge, der sich seiner abermals annimmt, in die Heimat zurückgeführt.
Wir mögen insonderheit hier sehen, wie ernst und dankbar wir den Ratschlag eines treuen Freundes aufnehmen sollten. Indessen – wie viele Menschen nur besitzen schon wahre Freundschaft? Ferner erhellt aus der vorangegangenen Geschichte, daß unser Sinn namentlich keineswegs nur auf einen einzelnen Menschen gerichtet sein sollte. Verlieren wir ihn nämlich, verlieren wir immer gleich alles – und so verhält es sich bei allem Irdischen. Indes, vertrauen wir auf all jenes, was nicht irdisch ist und welches unverlierbar in unserm Innern ruht – ja, nur dann haben wir das Reich Gottes geerbet und erhalten Anteil an ihm, und so mußte denn auch der Chevalier zuletzt erkennen, daß das Gras auf dem Felde heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird [2]! So dient uns das ganze, artige Werk des wackern Abbé Prévost als ein Menetekel, dessen verborgenen Warnrufes wir sehr wohl gewahr werden sollten, anstatt eine helle Lache aufzuschlagen über die vielen Ergötzlichkeiten, welche darinnen gar anmutig geschildert werden, und sich allsogleich wieder unbedacht all jenen Verhängnissen hinzugeben, von denen uns die Erzählung ein belehrendes Wort sprechen will!
[1] Antoine-Francois Prévost d’Exiles (1697-1763), genannt L’abbé Prévost, war zunächst Jesuitenschüler und Benediktiner, entfloh dann allerdings dem Orden und führte ein unstetes Abenteuerleben, wandte sich später aber wieder dem kirchlichen Leben zu und wurde Weltgeistlicher. Der letzte (siebente) Band seiner ‚Mémoires‘ enthält die Geschichte der ‚Manon Lescaut‘, ein Meisterwerk der französischen Erzählkunst und Vorläufer des psychologischen Romanes. Wir dürfen mit Recht annehmen, daß die Geschichte der ‚Manon Lescaut‘ (von Puccini vertont) auch autobiographische Züge des Dichters trägt.
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