Hinsichtlich des vorangegangenen Punktes [1] erscheint es uns ferner von einiger Wichtigkeit, etwas näher auf die Verantwortung des Schriftstellers bzw. den nicht zu unterschätzenden Einfluß der Literatur auf die Bildung im besonderen einzugehen. Wie wir festgestellt haben, hängt der Grad des Wertes eines Menschen unter anderem eben auch von dessen Bildung oder Unbildung ab. Unter „Bildung“ im klassischen Sinne wollen wir keineswegs eine rohe Konglobation, eine ungeordnete, wirre Anhäufung von irgendwelchen belanglosen Informationen verstanden wissen, deren sich der „gebildete Mensch von heute“ so gerne zu berühmen pflegt! So glauben doch einige unserer „gebildeten“ Zeitgenossen in der Tat, sie verfügten über eine umfassende Allgemeinbildung, indem sie täglich die Zeitung lesen würden und infolgedessen desbezüglich unterrichtet wären, was sich hier oder dort auf unserem Planeten an Aktualitäten zutrage. Auch glaubt manchereiner, er habe gleich Odin sein Auge für Weisheit hingegeben [2], indem er durch seine alltägliche Lektüre von sogenannten „Modemagazinen“ beispielsweise wüßte, welche Mobiltelefone sich jetzt ganz absonderlich der Gunst des Publikums erfreuten, daß diese oder jene Sängerin oder Schauspielerin sich den Busen vergrößern habe lassen oder weiße Tennissocken nunmehr gänzlich aus der Mode gekommen seien. Andere wieder rühmen sich einer großen Belesenheit, scheinen aber durchaus nicht zu begreifen, daß sie bei aller Kenntnis irgendwelcher abgeschmackter Scharteken die großen Meisterwerke nicht kennen, welche unsere heutige Weltliteratur ausmachen. Alle aber scheinen sie den Begriff der Bildung vom Gesetz derselben zu sondern und dabei zu übersehen, daß Begriff und Gesetz hier eben eins sein müssen: und unter diesem „Gesetz“ verstehen wir eben nun einmal den moralischen Fortschritt des Menschen an und für sich, weshalb auch alles Wissen, welches auf eine andere Ebene abzielt, zu nichts weiter nütze ist denn zu müßigem Zeitvertreib [3].
Aus diesem besonderen Grunde sollte es für den Rezensenten von Literatur von höchster Bedeutung sein, was denn nun den Gegenstand seiner diesbezüglichen Studien ausmacht. Wie bereits eingangs erwähnt, wird es wenig helfen, viel zu lesen, weil es nämlich nicht sowohl darauf ankommt, wieviele Bücher man liest, sondern welcher Art dieselben seien. Es wird in diesem Zusammenhange auch viel von der „Verantwortlichkeit“ des Schriftstellers geredet, welche dieser der mehr oder weniger lesenden Menschheit gegenüber habe; doch von einer solchen Verantwortlichkeit, wenn sie in einem gesunden und verständigen Sinne interpretiert wird, ist desto weniger zu spüren, je mehr und aufgeklärter man davon schwatzt. Es könnten einem wahrhaft die Tränen der Verzweiflung in die poetisch verklärten Äugelchen treten, wenn man sich jenen endlos wiedergekäuten Wust von gehaltlosen Schmökern vor Augen hält, welche uns ja doch nur immer und immer wieder dasselbe weismachen, und A. W. Schlegel [4] hat sich in einem Aufsatz [5] darüber schon mit einigem Überdruß ausgesprochen. Wir wollen also jetzt davon abstehen, uns noch einmal über dergleichen zu verbreiten; weit mehr gilt es, in diesem Zusammenhange festzustellen, wie sehr sich der einzelne Schreiber darüber im klaren sein sollte, welche Dogmen er unter das Volk zu streuen im Begriffe ist. Die Vergangenheit hat nur allzu deutlich gezeigt, daß Bücher und Schriften – natürlich ebenso die neueren Medien, welche vorzüglich die Kinematographie sowie die Computerindustrie vorstellen – den fatalsten Einfluß auf die ohnedies in höchstem Grade labile und konformistische Masse auszuüben imstande sind. Den für den Vertrieb verantwortlichen Monsignores scheint das aber schlechterdings einerlei zu sein; und wenn einige wenige hellsichtige Köpfe [6] bereits zu Beginn des Neunzehnten Jahrhunderts erkannten, daß es das ökonomische Prinzip sei, das die Aufklärer damals geleitet habe und welches ja auch ihre Protagonisten in der neueren Zeit leitet und von den ersteren seinerzeit noch auf das heftigste dementiert wurde – so brauchen wir dieser Tage im Angesichte des Regnums eines materialistischen Gedankens ohnegleichen freilich erst gar nicht damit anfangen, zu erwägen, ob jene damals mit ihren Behauptungen wohl recht gelegen hätten.
Es wurde einmal irgendwo gesagt, man solle immerhin die Frauen fein schreiben lassen, und wenn sie schon nichts Vernünftiges zustande brächten, so fügten sie wenigstens mit ihrer Schreiberei auch niemandem Schaden zu. Lange hat es auch darnach ausgesehen; mit mancherlei anderen Verderbtheiten aber hat uns die neuere Zeit auch das verstärkte Aufkeimen einer feministischen Literatur mit beschert, und unter dieser befinden sich nun vorzüglich einige ganz fatale Unanständigkeiten, auf welche wir in einem anderen Kapitel über die Frauen [7] schon ein bißchen eingegangen sind. Heute aber befindet sich die Majorität der Literatur, jene der Männer wie der Frauen gleichermaßen, in einem erbarmungswürdigen Zustande; was soll uns zum Exempel die abgeschmackte Geschichte eines bejahrtes und überdies noch geschiedenen Präsidentenehepaares frommen? Was sollen wir nur mit der eintausendundeinsten Publikation über die Geschlechterbeziehung – übrigens in der schalsten Journalistenmanier geschrieben – anfangen? Und was soll uns bloß das unaufhörliche Einerlei von irgendwelchen Ratgebern, pseudopsychologischen Ergüssen oder einer Belletristik, welche sich übrigens der fadesten Leerheit befleißigt?
Allein am Unvermögen der Menschheit, eine umfassende, universelle Amelioration der Weltbegebenheiten herbeizuführen, liegt die Antwort begründet, inwieweit man es mit solcherlei Schriftstellertum zu etwas bringt; und wenn jetzt schon alle sogleich wieder zu schreien anfangen, man lese ja vorzüglich der Erbauung halber, und nicht, um sich durch die moralische Zuchtrute des Hofmeisters hinter jedem Satze des ganzen Lesegenusses berauben zu lassen, wie E.T.A. Hoffmann etwa Schillern gegenüber einmal meinte [8] – so können selbst die ergötzlichsten und unterhaltendsten Dinge noch immer ihr bescheiden Teil Tiefsinn implizieren. Hoffmann [9] selbst war ja ein lebendes Beispiel dafür.
Indessen kann ich es durchaus nicht mit jenen halten, welche in der Literatur einen reinen Gegenstand der Unterhaltung zu sehen glauben. Freilich sollte auch jener Bereich nicht zu kurz kommen, und der Großteil unserer Leser ist sicherlich mit einem nicht allzu prätentiösen Roman besser beraten als mit irgendwelchen wissenschaftlichen Enzyklopädien – und meinetwegen mag auch ein mittelmäßiger oder gar ein schlecht geschriebener Roman noch hingehen – solange er keine Perversionen oder Verkehrungen gediegener Wertvorstellungen enthält. Ich würde eine derartige Publikation sogar noch gegenüber einer solchen rechtfertigen, welche zwar in einer intelligenten und durchaus gelehrten Diktion verfaßt sein mag, welche aber intentionell eine Stigmatisierung oder gar Pervertierung beabsichtigt. Als besondere Ironie des Schicksals mag es anmuten, wenn ich bemerke, daß eben gerade ein solches Buch die Abfassung der vorliegenden Schrift beförderte und so recht eigentlich gebar – nämlich die Lektüre des blutigen und allezeit berüchtigten „Malleus malificarum“ von Henricus Institoris (und Jacobus Sprenger). Indessen will ich den beiden Jüngern des heiligen Dominicus durchaus keine bösen Absichten unterschieben; wie verheerend es allerdings sein kann, wenn man eine an sich reine Lehre in eine grammatica der Büttel und Schächer anastrophiert, davon ist dieses Werk ein lebendiges Zeugnis. Freilich werden derlei Werke niemals großen Einfluß auf die Masse der Leserschaft haben, da sie ungeachtet ihres kontroversen Inhaltes von einem hohen Grade an Gelehrtheit zeugen und deshalb für den Großteil der lesewütigen Menge schlichtweg ungenießbar sind. Was allerdings noch verantwortungsloser ist, ist pervertierte Lehre in der Gestalt von allerbanalsten und stereotypsten Platitüden unters Volk zu streuen, wovon die heutigen literarischen Geburten in allen Variationen eindrucksvoll Zeugnis legen.
[1] Kapitel X, Von der rechten Bildung, aus: Thomas v. Kienperg, Liber irae – die Löwentheorie.
[2] Das verpfändete Auge Odins, das in Mimirs Brunnen versenkt wurde, ist wohl als eine Allegorie des Wiederscheines der Sonne im Meere zu verstehen. Mimir trinkt täglich aus dem Meere Erkenntnis und ist als Riese Vertreter des Urwissens, das in seinem Brunnen quillt, während Odin Gott des Lichtes, des Sonnenscheins, ist. Mimir erhielt durch Odins Auge Sonnenlichtschein, Odin durch den Trank aus Mimirs Brunnen Anteil am Urwissen. Dazu heißt es in der Älteren Edda, Wöluspa 22:
„Und Odin, leidenschaftdurchglühet,
schlug auf das Aug‘ zum letzten Mal,
daß es in alle Weiten sprühet,
noch einmal trinke Himmelsstrahl.
D’rauf hat er’s Mimir eingetauschet,
für einen Trunk, als ew’ges Pfand,
doch was die Quelle ihm gerauschet,
das hat er keinem Ohr bekannt.“
[3] Vgl. dazu Platon, Zehnter Brief, 358c: „Wenn ich alle anderen Wissenschaften und Geschicklichkeiten, welche andere Ziele verfolgen als die Tugenden, nur glänzende Torheiten nenne, so glaube ich, ihnen den richtigen Namen zu geben.“
[4] A. W. Schlegel (1767-1845) war einer der führenden Köpfe der romantischen Bewegung in Deutschland. Zu seinen größten Leistungen zählt die Übersetzung von 17 Shakespearedramen, die bis heute als unübertroffen gilt. Zusammen mit seinem Bruder Friedrich gab er ab 1798 die Zeitschrift „Athenäum“ heraus.
[5] A. W. Schlegel, Der gegenwärtige Zustand der deutschen Literatur, 1802/03.
[6] So heißt es in A. W. Schlegels Aufsatz „Kritik an der Aufklärung“ unter anderem: „Wie ich nun durch das Bisherige deutlich genug gemacht zu haben glaube, daß es das ökonomische Prinzip ist, welches die Aufklärer leitet, so ist es auch die nur zu irdischen Verrichtungen taugliche Fähigkeit des Geistes, der in lauter Endlichkeiten befangene Verstand, den sie dabei ins Werk gesetzt, und sich damit an die höchsten Aufgaben der Vernunft gewagt haben.“
[7] Thomas v. Kienperg, Über den rechten Umgang mit Frauenzimmern, Der Abderitische Epitaph Nr. V.
[8] Dazu heißt es in einer Schrift von E.T.A. Hoffmann über den Zusammenhang von Poesie und Alltag: „Das Lustigste konnte nicht mehr erfreuen, denn hinter jedem Scherz ragte die Rute des moralischen Schulmeisters hervor, der gerade dann am geneigtesten ist, die Kinder zu strafen, wenn sie sich dem Vergnügen ganz überlassen.“
[9] Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann (1776-1822), der seinen dritten Vornamen aus Verehrung für Mozart gegen Amadeus vertauschte, führte ein für viele Romantiker typisches Doppelleben; neben seiner Tätigkeit im preußischen Staatsdienst war er der Kunst eng verbunden und zeigte auch Talent als Komponist und Maler. Sein dichterischer Auftrag trug ihm zeitlebens nur geringen Verdienst sein. Erst nach seinem Tode erfuhr sein Werk die gerechte Anerkennung der Fachwelt. Hoffmann gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des romantischen Realismus; von Goethe abgelehnt, in den französischen Salons und Bohemien jedoch als „Hoffmann le fantastique“ gefeiert, übte er einen großen Einfluß auf die Dichter der französischen Romantik wie etwa Victor Hugo aus.
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