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Wenn man den Paß Lueg in südlicher Richtung überquert und, dem Verlaufe der Salzach folgend, welche ihr steinernes Bette daselbst tief in den Fels gegraben, weiter seines Weges zieht, so wird man sich hüben wie drüben gar bald von starrenden Felswänden überragt sehen. Zu unserer Linken streben die stattlichen Gipfel des Tennengebirges, der Tirolerkopf und der mächtige Hochkogel, der hier seine abweisenden Wände gen Nordwesten kehrt, in den Himmel; wendet man das Auge indes nach dem jenseits des Salzachflusses gelegenen Terrain, so gewahrt der Wanderer sogleich einen düsteren, auf den ersten Blick wohl noch minder beachtlichen Gratkamm denn jenen des Tennengebirges. Bei genauerer Betrachtung jedoch entrollt sich seinem Auge ein langgestrecktes Gebirg‘, zerrissen und zerklüftet von seinem höchsten Scheitel bis zu den zahllosen Gräben und Furchen, welche zuweilen, steingewordenen Fingern gleich, fast bis ganz in die grüne Aue der Talgehänge herniedergreifen; über den mit dunklen Nadelgehölzen und Krummholz bewachsenen Flanken aber erheben sich zackige Grate und wunderlich geformte Felstürme, himmelhohe Schlüfte und mauersteile Wandfluchten, welche unverhofft herniederstürzen in bleiche Schuttkare und wildes, unwegsames Geschröf; wer dieses Anblickes genossen, der wisse, er habe das Hagengebirge gesehen.
Unscheinbar und unbeachtet erstreckt sich jenes Gebirge zwischen Salzach und Königssee einerseits, zwischen Blüntau- und Blühnbachtal andererseits. Wir bemerken alsogleich, daß es sich hierbei keineswegs eben um ein unbedeutendes Gebirge handelt; vielmehr umfaßt seine Fläche immerhin ein Gebiet von beinahe 100 Quadratkilometern, eine Fläche also, mit der es zu einem jener beachtlichen, großen Kalksteinplateaus unserer nördlichen Kalkalpen gehört. Ungeachtet der regen Erschließertätigkeit der letzten Jahrzehnte in unseren Alpen zählt das Hagengebirge zu jenen Teilen unserer alpinen Region, die noch weitgehendst unerforscht sind. Auch führen nur wenige Pfade in die einsamen Regionen jener Felsenwildnis; derselbe Umstand gab auch den Anlaß dafür, dieses unbekannte Gebiet einem zahlreicheren Publikum vorzustellen und auf diese Weise vielleicht das Interesse wo nicht der Allgemeinheit, so aber doch eines größeren Teiles derselben für diese einzigartige Naturlandschaft zu wecken.
Allein das Hagengebirge ist sehr schwer zugänglich: nur vom Blüntautal bei Golling sowie von der Salzachseite her eröffnen sich dem naturliebenden Wanderer einige wenige Möglichkeiten, unverzüglich in diese unwegsame Wildnis vorzudringen. Ansonsten sind die Zufahrtswege aus Gründen des Naturschutzes entweder gesperrt, oder man muß weite Umwege, wie etwa jenen über den Königssee, in Kauf nehmen, um von der bayerischen Grenze her in das erwähnte Gebiet zu gelangen. Wollen wir uns also zunächst noch an die einfacher erreichbaren Gegenden halten, um nach und nach allmählich in die entlegerenen Gebiete dieses extensiven Gebirgssystemes einzudringen. Der einfachsten Zustiegswege einer ist jener über das Blüntautal, das von Golling, einem malerischen Marktflecken im südlichen Tennengau, in einer kurzen Viertelstunde erreicht werden kann. Gar anmutig ist der chaussierte Fahrweg an den pittoresken Bauern- und Jagdhäusern am Eingang des Tales vorbei über den gemauerten Brückenbogen der Blüntauer Ache hinweg bis zur abseits gelegenen Bärenhütte, einem einsamen Rasthause, das sich inmitten des Talwaldes hart am Rande der Blüntauer Ache befindet. Die himmelhohen Wände des Göllmassives wie des Hagengebirges befrieden das enge Tal zu beiden Seiten, sodaß während der Wintermonate oft wochenlang kein Sonnenstrahl in den abgelegenen Winkel dieses von hohen Gebirgsmauern umgebenen Talbodens fällt. Eine Forststraße führt von hier aus in unzähligen Kehren bis zur Jochalpe und den herrschaftlichen Jagdhäusern knapp unterhalb des Carl-von-Stahl-Hauses am Torrener Joch empor. Wir aber wenden uns von dieser vielbegangenen Route ab und wandern von der Bärenhütte zunächst längs des Torrenerbaches nach der Richtung der Blüntauwasserfälle, wo wir nach einer guten Viertelstunde beim sogenannten Bärenloch anlangen, wo die klaren Wasser des Baches gleichsam aus dem Felsen zu treten scheinen. Auf schwankem Stege überqueren wir jenen Quell und gelangen auf dem schlecht bezeichneten Pfade alsobald zum Beginn unseres Anstieges. Eine von Wind und Wetter zerbeulte Signaltafel weist uns auf den schlechten Zustand des Pfades hin und warnt vor einem etwaigen, unüberlegten Weitermarsch. Zwischen der Kühleitenwand und der Unteren Wand leitet der Schlumsteig über moosbehangene Felsen und Geröll empor bis in den Bergwald; aber auch dort ist der Pfad nur höchst mangelhaft bezeichnet, und es bedarf zuweilen so manch prüfenden Blickes, um nicht etwa abseits des Weges zu geraten. Im oberen Teil eines hochstämmigen Buchenwaldes mit gelegentlich dazwischen wachsenden Fichten treten die Wände immer näher zusammen und scheinen sich gleichsam keilförmig in einem Winkel zu enden, sodaß ein Weitermarsch zuallernächst kaum noch möglich erscheint; auch zeugen allenthalben herumliegende Felsblöcke und Baumstämme von der Wildheit jener Region, und ich selbst wurde, damals im Beisein von Freund R., von jenen mannigfachen Fährnissen belehrt, als plötzlich ein tonnenschwerer Baumstamm über eine ohngefähr fünfzig Meter hohe Steilwand herniederkrachte, sodaß wir, gleichsam paralysiert, uns nicht von der Stelle zu rühren vermochten, und so dem ungeheuren Schauspiele nur untätig zusehen konnten. Glücklicherweise jedoch raste der Stamm an anderer Stelle zu Tal, sodaß wir wenigstens für diesmal noch mit heiler Haut davonkamen; indes sei anhand desselben Exempels nochmals mit allem Nachdruck auf den desolaten Zustand des Weges hingewiesen, denn nicht so wie auf manch anderen, vielbegangenen Pfaden sorgen hier der Alpenverein oder andere, uneigennützige Gönner dafür, daß die Wege sich allenthalben in gutem Zustande befinden.
In jener vorerwähnten, vermeintlichen Sackgasse, in welche der Pfad zunächst noch zu münden schien, leitet der Pfad indes unverhofft rechterhand über eine Anzahl von kleinen Leitern und Tritten das Geschröfe hinauf. Nach einem nicht allzulangen Weitermarsch erreichen wir einen Kreuzweg: linkerhand führt der Pfad zum einsam gelegenen Vorderschlumsee, rechts leitet er durch eine abgeschiedene Talung empor nach der verfallenen Alpe der Hinterschlum. Wir halten uns vorerst rechts und gelangen in mäßiger Steigung immer höher den jetzt häufig mit lichtgrünen Lärchen gesprenkelten Bergwald hinauf. An einer nur dem berggewohnten Auge erkennbaren Stelle, die gewöhnlich von einer sogenannten Steintaube bezeichnet wird, zweigt vom Hauptpfade ein unmarkierter Steig in die Felswildnis der Rotwand ab. Wir wollen denn also hier den bezeichneten Pfad um jenes letztern willen kurz verlassen, stellt die folgende Wanderung doch für meine Begriffe der großartigsten Gratüberschreitungen eine im gesamten Gebiete der nördlichen Kalkalpen dar. – Unterhalb der Wände gelangt man über Geröllschütten, auf recht steilem Pfade, welchen man aufgrund der mangelhaften, nur zuweilen durch Steintauben bezeichneten Markierung stets gut im Auge behalten sollte, auf die lieblichen Gründe der Rotwandalm. Unterweges mag der Wanderer vielleicht auf eine Kreuzotter (vipera berus) getroffen sein, welche sich bei freundlichem Wetter gerne auf den sonnenbeschienenen Felsen der Umgebung zu räkeln pflegen. Derselbe Pfad gewährt dem naturwissenschaftlich interessierten Bergfreund die mannigfaltigste Gelegenheit zur Naturbeobachtung. Gar viele seltene, bedrohte Pflanzen- und Tierarten haben sich in die Einsamkeit dieses einzigartigen Landstriches zurückgezogen und daselbst ein von Menschenhand noch fast unberührtes Refugium gefunden.
Die Rotwandalm ist einer jener zahlreichen, aufgelassenen Almböden des Hagengebirges. Kaum noch vorstellbar mutet uns derselbe Gedanke an, daß das Almvieh einst auf derlei beschwerlichen Wegen zu seiner Sommerweide gelangen mußte: heute indessen zeugt nur mehr ein Haufe von Krautwerk überwucherter, verfallener Balken von der ehemaligen Existenz eines Alpenkasers; ein knappes Stück Weges unterhalb der Alpe gurgelt, im dichten Grase verborgen, ein Quell. Die Umgegend ist von ausnehmender, landschaftlicher Schönheit; schon beim Anstieg zur Rotwandalm begleitete uns linkerhand beständig das markante Horn des Tristkopfes, mit 2110 Metern eine der beherrschenden Felsgestalten des nördlichen Hagengebirges. Über die Almwiese, welche, von allerlei Gräsern und hochstämmigen Königskerzen (verbascum thapsiforme) abgesehen ansonsten nicht sehr artenreich ist, erheben sich die mächtigen Hörner des Hohen Göll jenseits des Blüntautales. Mit einigem Glück sind wir auch schon dem Gamswild (rupicapra rupicapra) begegnet, das hier gelegentlich in ganzen Rudeln auftritt und in dieser Gegend zudem einen vortrefflichen Lebensraum zu besitzen scheint. Der Weg führt links vom Almfelde, vorbei an einer am Fels angebrachten Gedenktafel, weiter aufwärts. In diesen alpinen Regionen gedeihen vorzugsweise Coniferen der Arten Legföhre und Lärche, welche beide zur Familie der Pinaceen gehören; letztere gewähren namentlich während des Herbstes in ihren goldfarbenen Kleidern den anmutigsten Anblick. Auf diese Weise betreten wir, nachdem wir eine eigens ausgehauene Gasse am oberen Ende des Rückens durch die Legföhrenbestände auszumachen gewußt haben, den eigentlichen Grat: und hier endlich bietet sich uns erstmals ein umfassender Blick hinein in die weite Hochfläche des Hagengebirges. Und in der Tat erheben sich die Gipfel des Hagengebirges nur in ihrem südlichen Randbereiche wesentlich über die Vegetationsgrenze unserer Kalkalpen; bedeutende Teile der wellenförmigen Hochfläche jedoch sind von lichten Lärchen- sowie dunkleren Bergkieferbeständen bewachsen, und nur hie und da dazwischen zeigen sich freie, verkarstete Flächen. Das sich etwa zwischen 1400 und 2000 Meter erhebende Hochplateau verfügt über eine ausgedehnte Humusdecke und vermag deshalb vielen Pflanzenarten einen vorzüglichen Nährboden zu gewähren. Auf einem jenseits des Schlumtales gelegenen Höhenrücken erhebt sich die sogenannte Eiblhöhe mit der gleichnamigen Jagdhütte. In jener Gegend gibt es noch hundertjährige Zirbenbestände – ein Umstand, der in unseren heimischen Alpen mittlerweile höchst selten geworden ist. Den südlichen Horizont begrenzt der mächtige Kalkstock des Hochkönig, auch Ewiges Schneegebirge genannt, welcher in seinem obersten Teil vom einzigen Plateaugletscher unserer gesamten Ostalpen, der Übergossenen Alpe, gekrönt wird, ein Juwel von ungeheurer Größe, deren reinste und makellose Pracht blendend zu unserer einsamen Felswarte herüberstrahlt. –
Nun beginnt der Grat allmählich zackiger und schroffer zu werden, und, seiner Scheitelhöhe folgend, wird man gezwungen, bald nach links, bald nach rechts auszuweichen, um den besten, gangbaren Weg für sich zu gewinnen. Dazwischen bieten sich dem Wanderer immer wieder unvergleichliche Tiefblicke in die Täler der Schlum wie der Blüntau, nach welchen die Wände nun zu beiden Seiten gleichermaßen steil niederbrechen. Auch eröffnen sich uns zuweilen erstaunliche Einblicke in die mächtige Nordwand des Schneibsteines, jenes Gipfels, der den nordwestlichen Eckpfeiler des Hagengebirges bildet und mit seinen 2277 Metern auch den Kulminationspunkt in diesem Teile des Gebirges vorstellt. Der Schneibsteingrat erfordert Schwindelfreiheit und ist daher nur berggewohnten Wanderern zu empfehlen; außerdem treffen wir auf unserem Wege allenthalben auf Exemplare des Stengellosen Enzians (gentiana acaulis) mit seinen üppigen, blauen Blütenkelchen sowie das allseits bekannte Edelweiß (leontopodium alpinum). Beide Arten stehen unter Naturschutz, ein Umstand, dem durchaus Rechnung getragen werden sollte; entschließt man sich freventlicherweise dennoch, eine dieser selten gewordnen Alpenblumen zu brechen, so sei immerhin empfohlen, dergleichen wenigstens ohne Wurzelstock zu tun.
Auf dem östlichen Gipfel mit dem kleinen Kreuze bietet sich uns einer der schönsten und lohnendsten Plätze der gesamten Umgebung. Man genießt einen umfassenden Panoramablick auf einen großen Teil der Berchtesgadener Alpen; außerdem erfreut man sich hier des bemerkenswerten Vorzuges, nur selten einem Wanderer zu begegnen. Auf Wegen dieser Art wird man gewöhnlich von der lärmenden Masse des Bergvolkes unbehelligt bleiben. Allenthalben bewundern wir nun die höchst gewandten Flugkünste der Alpendohle (pyrrhocorax graculus), und zuweilen bietet sich sogar die seltene Gelegenheit, den Steinadler (aquila chrysaetos) bei seinem Segelflug entlang der Felstürme zu beobachten. Man sollte sich daselbst eine erquickliche Rast gönnen, denn der Hauptgipfel des Schneibsteines ist, vom Torrenerjoch auf bequemem Wege in etwa zwei Stunden zu erreichen, zumeist von Scharen geschäftiger Bergpilger umlagert, und man tut, nachdem man den dazwischenliegenden, ohngefähr eineinhalb Stunden währenden, mit durchaus beachtlichen Rundblicken aufwartenden Rücken [1] überschritten hat, gut daran, sogleich an demselben vorüberzuschreiten und allsogleich weiter seines Weges, sei es ins Tal, sei es weiter ins Hagengebirge hinein oder zur nahegelegenen Windscharte, zu ziehen. Der Genuß, welchen einem solche Populationen von Alpinisten gewähren, ist ein höchst fragwürdiger, und das größte Ergötzen gewährte mir bei ähnlicher Gelegenheit noch ein rencontre mit einer deutschen Landsmännin auf dem Abhange des Schneibsteines, die einer übergebührlichen Huldigung alpenländischer Tradition halber ihre beiden Kindchen samt und sonders in ein alpenländisches „Kostüm“ gesteckt hatte – jener Tand, wie er allenthalben bei den Trödlern und Krämern rings um den Königssee feilgeboten wird. Solche zur Farce geratenen Bilder muten zuweilen gar erbarmungswürdig an, sintemalen, wenn solch lächerlich ausstaffierte und herausgeputzte Arlequins im vollsten Soge alpenländischer Tradition zu schiffen wähnen, um im allernächsten Augenblicke sogleich, in gebäfftem Dirndl und frisch gewichster Lederhose, in plattdeutsche Redetiraden zu verfallen – ein jeder nach seiner Facon, so denk‘ ich mir, und eines schickt sich eben nicht für alle!
Nachdem wir nun diesen höchst trefflichen Pfad beschritten haben, welcher in der Folge noch die mannigfaltigsten Optionen eines Weitermarsches bietet, aber auch per se gewöhnlich schon eine volle Tagestour ausmacht, kehren wir wieder auf den Hauptpfad zurück, den wir im Bereich der Vorderschlum desselben Abstechers wegen verlassen haben. Hier, im nördlichsten Teil des Hagengebirges wie in dessen Randgebieten entlang des Königssees bieten sich noch die besten Möglichkeiten, auf einfachen Wegen das Gebirge zu bewandern. Es ist dies auch jener Teil, der von den Wanderern aufgrund seiner Nähe zum Carl-von-Stahl-Haus sowie zur Jennerbahn vorzugsweise besucht wird; indes beschränken sich diese Besuche namentlich auf den Hauptgipfel des Schneibsteines sowie jene Route oberhalb des Königssees, auf welcher man vom Torrener Joch oder von den Gotzenalmen kommend auf einem langen Marsche die Wasseralpe in der Röth erreicht. Doch selbst auf dem letzteren Wege werden einem nicht allzuviele Wanderer begegnen, und auf jenen von uns geschilderten Pfaden braucht der die Stille und Ruhe bevorzugende Bergfreund ohnedies nicht besorgen, auf gar viele Leute zu treffen; vielmehr verhält es sich so, daß man oftmals jeglicher Gesellschaft entbehrt. Dieser Umstand gibt zu dem ernstgemeinten Hinweise meinerseits Ursache, daß man stets bestrebt sein sollte, die Gefahren genau zu erwägen, ehe man sich entschließt, in diese Einöde einzudringen. Einmal in abgelegene Winkel verschlagen, ist man unter Umständen ausschließlich auf sich alleine gestellt, und wer daselbst früher einer Verletzung oder der nächtlichen Kälte wegen hätte elendiglich zugrunde gehen müssen, der danke es dem Fortschritt, daß ihm in unseren Tagen allerlei Hilfsmittel wie etwa das Mobiltelefon zu Gebote stehen. Doch sei dem Unwissenden trotzdem im Ernste versichert, daß auch dieses nur an besonders günstig gelegenen Stellen funktioniert und Hilfe verspricht, und man sich eingedenk dessen weniger auf die Technik als vielmehr seinen gesunden Menschenverstand verlassen sollte.
Genug damit, nehmen wir unsere Wanderung an ebenjener Stelle wieder auf. Ein Weilchen geht es noch in ziemlich mäßiger Steigung im Bergwalde dahin; alsdann zieht der Pfad sich längs einer Geröllhalde, hoch oberhalb jenes Talkessels, in welchen der Vorderschlumsee, den wir ein andermal zum Gegenstande unserer Betrachtungen machen wollen, gebettet liegt, dahin. Nun gelangen wir immer tiefer in das Hochtal der Schlum hinein. Links im Rücken grüßt noch immer das stattliche Horn des Tristkopfes, rechts über uns erheben sich die schwindelnden Türme der Rotwand und des Schneibsteins. An den Steinen und Felsen ringsum können wir allgemach Lithophyten sowie andere, kryptogame Arten observieren. Auch entquillt dem moosigen Gestein zuweilen Wasser, kleine Brünnlein bildend, an denen der Wanderer eine vortreffliche Gelegenheit erhält, seine Trinkwasservorräte zu ergänzen. Unterweges haben wir auf den Geröllschütten unterhalb der Schneibsteinwände immer wieder Gelegenheit, das Gamswild zu beobachten. So gelangt man auf dem schlecht ausgetretenen Fußpfade endlich von der Vorderschlum in das hintere Schlumtal. Hier eröffnet sich uns eine Landschaft von unvergleichlicher Ursprünglichkeit und Schönheit; allenthalben schmückt das lichte Grün des Lärchbaumes unseren Weg, und allerlei seltne Alpenblumen lassen sich entlang des Weges, besonders aber auf dem lieblichen Anger bei der Hinterschlumalpe beobachten: Europäische Trollblume (trollius europaeus), allerlei Enzian- und Glockenblumenarten, Alpen-Süßklee (hedysarum hysaroides), sowie viele andere Pflanzen unserer alpinen Vegetation; zuweilen sieht man auch größere Gewächse wie etwa den großblätterigen Alpendost (adenostyles alliariae), verschiedene Distelarten oder den höchst giftigen, blauen Eisenhut (aconitum napellus), welch letzterer übrigens häufig als die giftigste Planze der gesamten europäischen Flora bezeichnet wird. All diese vielfarbigen, bunten Gewächse vereinigen sich auf dem lichtgrünen Anger zu einer farblichen Harmonie von unaussprechlicher Lieblichkeit! Am Rande des Almfeldes erkennt man unschwer das verfallene Balkenwerk des einstigen Kasers der Hinterschlumalpe, von allerlei Unkraut und Vogelbeersträuchern überwuchert. Ganz besonders malerisch sind dieselben Sträucher zu jener Jahreszeit, in welcher sie ihre tiefroten, kleinen Beerenfrüchte tragen, aus denen man übrigens einen vorzüglichen Brand gewinnen kann. Im westlichen Hintergrunde beschließt der 2211 Meter hohe Windschartenkopf die ganze, großartige Szenerie.
Auf unserem Weitermarsch gelangen wir zuletzt auf einem teilweise mit Drahtseilen versicherten Steig zur 2103 Meter hoch gelegenen Windscharte, welche erstmals auch einen umfassenden Blick auf das Berchtesgadener Land mit dem jenseits des Königssees aufragenden Watzmann gewährt. Die Windscharte ist ein Kreuzungspunkt, von welchem aus man unschwierig über den breiten Rücken zum Hauptgipfel des Schneibsteines gelangen kann. Dieser Weg ist nicht gar reizvoll, zählt er doch zum erweiterten Einzugskreis jener Art von Bergwanderern, welche sich für gewöhnlich rudelweise auf dem Schneibstein aufzuhalten pflegen; nichtsdestoweniger gehört der Weg über den Schneibstein zum Carl-von-Stahl-Haus am Torrener Joch und anschließend über die Jochalpen zurück zur Bärenhütte ins Blüntautal, insbesondere, da man ihn zum ersten Male beschreitet, zum schönsten, welches dieser Landstrich zu bieten hat. Der einzig wahre Nachteil besteht lediglich in dem Umstande, daß er besonders an schönen Tagen viel zu stark begangen ist.
Der andere Weg führt uns in etwa einer Stunde zum malerisch gelegenen Seeleinsee zu Füßen des mächtigen Kahlersberges. Im Unterschied zum Vorderschlumsee scheint dieser kleine, hart am Rande des Wanderweges gelegene Bergsee ganzjährig aus unterirdischen Quellen gespeist zu werden. Das Wasser ist auch während der warmen Jahreszeit recht kühl, doch laden seine grünschimmernden Fluten auch schon einmal zu einem wohltätigen Bade ein. Einige Minuten abseits davon befindet sich eine Hütte der Bergwacht. Nach kurzem Weitermarsch gelangen wir zur Scharte auf dem Hochg’schirr, wo der Pfad zum Kahlersberg, dem Kulminationspunkt am zentralen Westrande des Hochplateaus, abzweigt. Auf einem wiederum an einzelnen Stellen mit Drahtseilen gesicherten, und manchmal recht luftigen Steige inmitten mauersteiler Felswände erreichen wir bald den breiten Rücken der Kahlersbergalm, einer weiten, steinigen Grasflur mit hochalpinen Gräsern und Saxifragen, auf welcher wir häufig Gelegenheit finden, den mächtigen Steinbock (capra ibex) mit seinem ungeheuren Gehörn zu beobachten. Galt das majestätische Alpentier in dieser Gegend bereits während des 18. Jahrhunderts nahezu als ausgerottet, unternahm man während der letzten Jahrzehnte den Versuch, die Tiere im Gebiet des Blühnbachtales wieder anzusiedeln. Die Population scheint sich indessen wieder gut regeneriert zu haben, denn so manch stattlicher Bock, dessen Gehörn ohngefähr ein Alter von reichlich zwanzig Jahren verriet, ward daselbst schon gesehen. Nun dauert es nur noch eine kurze Viertelstunde, und wir erreichen über den breiten Rücken den Gipfel des 2350 Meter hohen Berges, welcher der höchste Kulminationspunkt der gesamten Gruppe nächst dem berüchtigten Teufelshorne ist. Den Gipfel ziert ein wunderschönes, überdachtes Holzkreuz; etwas abseits davon befindet sich ein kleiner, hölzerner Schrein mit einem Messiasbilde. Von jenem Kulminationspunkte, welcher gleichsam beherrschend über dem einsamen Hochplateau thront, bietet sich ein vorzüglicher Blick auf die orographische Struktur des Gebirges. Man beginnt allmählich die beträchtlichen Ausmaße zu ahnen, welche dieser gewaltige Gebirgsstock umfaßt. Zu Füßen des Berges dehnt sich die stundenweite, wellenförmige Fläche des Hochplateaus vom steinernen Grenzwall des den Norden beherrschenden Schneibsteines bis zum abgelegenen Horn des Tristkopfes weit im Osten, von den fernen Höhen der Hochschottwiese bis zu den keck aufgeschwungenen Teufelshörnern im Südwesten, welche als entlegenste Außenposten, den berühmten Säulen des Herkules gleich, jenes steinerne Meer gleichsam befrieden. Im Frühsommer noch zeigt sich die wellige Hochfläche von alle Vertiefungen und Mulden im Gestein ausfüllenden Firnfeldern ganz weiß gesprenkelt; später im Jahr hält sich der Altschnee nur mehr in schattigen Gräben und Klüften, in Dolinen oder aber in Höhlen, wo sich nicht selten Eis zu bilden beginnt. Die über den kompakten Hauptdolomit gelagerten, korrosionsfähigen Dachsteinkalke begünstigen die Ausformung von Schratten, Karren und ähnlichen Karsterscheinungen. Abseits dieser geologischen Ansichten bietet sich dem Auge des Betrachters ein überwältigendes Bild: fast auf geradem Wege gegenüber, jenseits des Königsees, ragt die höchste Wand der Ostalpen, die Watzmann-Ostwand, in den blauen Sommerhimmel – wahrhaft ein Anblick voll wunderbarer Majestät! Im Süden begrenzt der Hochkönig mit seinem langgedehnten Gletscherfeld den Blick, welcher fortschweift bis zu den fernen Eiszinnen des Dachsteines am östlichen Horizont. Ringsum im weiten Kreise aber erheben sich allerwärts die berühmtesten Gipfel der Berchtgesgadener Alpen, deren exakte, hypsometrische Bestimmung in den Tagen eines Hermann von Barth [2] möglicherweise so gar einfach nicht war; heute jedoch sind sie allesamt auf das genaueste vermessen und kartiert.
Genaugenommen gibt es auf den Kahlersberg [3] nur einen markierten Pfad, dessen zu bedienen wir uns gewöhnlicherweise auch wieder für den Abstieg gezwungen gesehen hätten. Vom Bergsattel auf dem Hochg’schirr gelangte man, jenem Steige unterhalb der langgezogenen Landtalwand folgend, in wenigen Stunden in das Hochtal der Röth, wo sich die Gelegenheit bietet, auf der Wasseralm Quartier zu beziehen und von dessen Sohle aus die einzigen, bezeichneten Wege auf die Teufelshörner führen. Da uns dieser Weg indessen zu begangen ist [4], entscheiden wir uns denn für eine Tour querfeldein, über jene unzähligen Erhebungen des Plateaus wie etwa die Kragenköpfe hinweg bis zum südlichen Rand des Gebirgsstockes. Es gilt in diesem Zusammenhange insonderheit zu bemerken, daß das Hochplateau eine Unzahl von Jägersteigen und Hirtenpfaden durchkreuzen; einige dieser Wege sind auch mit Steintauben bezeichnet. Dennoch sollte man sich gar wohl davor verwahren, ohne genauere Kenntnis der Gegend schlechterdings aufs Geratewohl darauf loszumarschieren; tut man dergleichen dennoch, so sollte man wenigstens über gutes Kartenmaterial sowie eventuell über einen Kompaß oder ähnliche Orientierungshilfen verfügen. Dem nämlichen Wege folgt übrigens eine berühmte Tourenskiroute, die in der Gegend allgemach als Große Reibn bekannt ist.
Es ist schon Abend, als wir, das sind in unserm Falle Freund R., Freund H. und ich, einen geeigneten Platz für unser Biwak in der Nähe des sogenannten Jägerbrunntroges auszumachen wissen. Noch funkelt die tiefstehende Sonne über den ebenen Gipfel des nahen Blühnbachkopfes, doch bald schon würde sie gänzlich verschwunden sein. Wir hatten in der Tat den ganzen Weg von der Bärenhütte bis hierher in einem Parforcemarsch auf dem eben beschriebenen Wege zurückgelegt, und beabsichtigten auf den morgigen Tag die Besteigung des Großen Teufelshornes, welches, uns auf geradem Wege gegenüber, im letzten Abglanze der scheidenden Sonne, herausfordernd seine Felszinne in den Abendhimmel streckte und dessen Gipfelkreuz wir schon mit unseren Händen greifen zu können vermeinten. Zunächst aber harrte unser noch eine kalte Nacht auf über 2000 Metern Seehöhe. – Rasch bereiten wir das Lager zu bequemlicher Rast. Nach einem erquickenden Nachttrunk verkriechen wir uns denn unverzüglich in unsere Schlafsäcke, damit der anbrechende Tag uns wieder bei frischen Kräften finden möge. In der Tat erweist sich die Nacht als äußerst frostig, sodaß an Schlaf, wenigstens bei mir, fast nicht zu denken ist; und da sich Morpheus denn einmal meiner nicht erbarmt, so sehe ich unaufhörlich nach dem Stand der Gestirne und harre beständig darauf, daß das erste Frührot sich endlich über den östlichen Zinnen des Gebirges zeige. Sowie das Morgenlicht eine vernünftige Sicht gestattet, befinden wir uns auch schon wieder auf unserm Wege. Alsogleich rekognoszieren wir die östliche Kante des Großen Teufelshornes, welches mit seinen 2363 Metern den Kulminationspunkt des gesamten Gebirgsstockes bezeichnet und welche Kante ich für unsern heutigen Gipfelsturm vorgesehen hatte. Eine beachtliche Anzahl von Gamswild und Steinböcken befand sich in den Wänden der Teufelshörner, und bereits am Vorabende hatten wir im Gebiet des Wildalmriedls ganze Rudel dieser stolzen und ansehnlichen Alpenbewohner erblickt. Es ist dieser Winkel wohl auch der entlegensten und unzugänglichsten einer im gesamten Gebirge, was denn das häufige Vorkommen dieser ansonsten so scheuen Gesellen erklären mag [5]. Zuletzt müssen wir uns in Ermangelung eines anderen Pfades vom Jägerbrunntrog abwärts wenden und gelangen auf solche Weise schließlich auf den Boden des sogenannten Eisgrabens, der, wie ich meine, seinen Namen mit einigem Rechte führt. Im Schatten der himmelanstrebenden Wände des Großen Teufelshornes führt dieser Graben hinunter bis in das Gebiet der Oberen Röthalmen. Von dieser Seite, welche die schwärzlichten Mauerfluchten des Großen Teufelshornes begrenzen, sehen wir keine Möglichkeit, ohne zusätzliche Kletterhilfe eine Besteigung desselben Berges in Ausführung zu bringen; folglich kommen wir auf dem weg- und steglosen Terrain immer tiefer und finden uns zuletzt im Gebiet der Oberen Röthalm wieder. Majestätisch blicken die Wände des Watzmann vom jenseitigen Tale auf uns hernieder; linkerhand daneben erhebt sich die stolze Felszinne des Funtenseetauern. Nach mancherlei Irrungen gelangen wir im Gebiet der Röth wieder auf den rechten Pfad zurück. Zur Besteigung der Teufelshörner allerdings ist jetzo niemand mehr in der rechten Laune, obschon die beiden Gipfel eben von hier aus auf ziemlich bequemem und markiertem Wege zu bestürmen wären; aber sei‘s drum, die petrefakten Gesellen stehen auch noch ein andermal am selben Platze, und dann sollen sie uns wohl kaum nocheinmal entgehen! Also begeben wir uns auf nächstem Wege zur gar anmutig inmitten des ebnen Grundes gelegenen Wasseralm, wo wir uns vor dem Abstieg zum Königssee noch einmal an einem kühlen Trunk laben. Alsobald beginnt der steile Abstieg über den Röthsteig nach dem Obersee und von dort weiter zum Königssee, wo ein Kahn uns sicher über den See zu dessen nördlichem Ufer zurückbringt. So ist die Besteigung des Kulminationspunktes des Hagengebirges, des Großen Teufelshornes, also denn doch noch mißlungen. Schifft man indes zeitig am Morgen mit einem Kahn über den Königssee und steigt über die Röth zur Wasseralm auf, so ist die Ersteigung über den bezeichneten Steig ohne weiteres an einem Tage zu bewältigen.
Diese Wege sind allerdings mitnichten die einzigen, welche in das Hagengebirge hineinführen. Als wir beim Anstiege von der Blüntau an jener Weggabelung haltgemacht, wies die Signaltafel linkerhand nach dem Vorderschlumsee. Wir wollen nun auch noch diesen Weg beschreiten, führt er uns doch in eine der faszinierendsten Gegenden des gesamten Hagengebirges. Auf unserem Marsch durch den Bergwald mit dichtem Unterwuchs, vorzugsweise aus Kräutern und Farnen bestehend, begegnen wir so manchem Gras- und Wasserfrosch; gar geschäftig turnen die muntern Gesellen im Krautwerk neben dem Pfade zu unsern Füßen umher, und bisweilen bietet sich uns sogar der Anblick des schwarzen Alpensalamanders (salamandra atra). Der insgesamt feuchte Untergrund dieser Gegend läßt jenes auf einen Feuchtbiotop abgestimmte Tier- und Pflanzenbild erkennen. So gelangen wir, anfänglich über Waldesgrund, anschließend über eine unwegsame Geröllhalde, welche beinahe keine Spuren eines Pfades mehr erkennen läßt, immer tiefer in jenen Felsenkessel hinein, auf dessen tiefstem Grunde der See liegt. Dieses wundersame Gewässer erhält nur Nahrung vom Schnee und Regen der kalten Jahreszeit und verfügt über keinen sonstigen Zufluß. So kommt es, daß der Vorderschlumsee im Laufe eines Jahres immer kleiner wird und zuletzt, in den späten Sommertagen, endlich ganz verschwindet. Am Seeboden wachsen alsdann verschiedene Gewächse wie Torfmoose, Moor-Wollgräser, Sumpf-Herzblatt sowie ähnliche Pflanzen der Feuchtgebiete. Während des übrigen Jahres allerdings erfüllt ein kleiner, anmutiger Alpensee den von öden Felsen umzirkten Kessel, welcher einem natürlichen Amphitheater gleicht und der nur an seinem südöstlichen Rande einen Streifen festen Landes übrigläßt, welcher nachgerade in Sumpf übergeht. Der Vorderschlumsee bietet in der Tat eine vorzügliche Gelegenheit für Naturbeobachtungen, und nur selten wird man sich diesen vortrefflichen Platz mit anderen Besuchern teilen müssen. Die Uferregion bietet hervorragende Möglichkeiten für ein Biwak, und einige alte Feuerstellen zeigen uns, daß hier auch schon Lagerfeuer angesteckt worden sind. Am südlichen Ufer der Talung befand sich vor Zeiten außerdem einmal eine Alpe, die Seealm, und einige vermoderte Balken geben noch ein beredtes Zeugnis aus jenen Tagen. Zudem bietet der Felsenkessel vor den Unbilden der Witterung mancherlei Schutz und ist als Ausgangspunkt für eine Hochtour allerbestens geeignet. Abseits vom Mikrokosmos unserer vielen Insektenarten ist der See ein wahres Paradies für alle Art von Lurchen. So observieren wir neben verschiedenen Arten von Fröschen und Kröten auch den prächtigen, buntgefärbten Alpenmolch (triturus alpestris). Die Gegend um den See ist für den Entomologen nicht minder eine Fundgrube denn für den Ornithologen oder den Erforscher des Tierlebens der Hydrosphäre; auf jeden Fall aber vermag der Naturforscher ebenso wie der gewöhnliche, ruheliebende Wanderer ungetrübten Naturgenuß am Busen dieser einzigartigen Natur zu finden.
Vom Seeboden aus kann man auf einem allerdings nur höchst mangelhaft bezeichneten Pfade zum Gebiete der Vorderschlumalpe und von dorten weiter in das paradiesische Schlumtal gelangen, welches wir bereits vorhin bewandert haben. Wir wenden uns deshalb jenem zweiten Wege zu, welcher linkerhand über einen steilen Graben, die sogenannte Seeleiten, über die aufgelassene Grünalm hinauf zur Verbundhütte unterhalb der zerklüfteten Abstürze des Tristkopfes führt. Dieselbe gemauerte Hütte ward einst erbaut, da man begann, die Hochspannungsleitung quer über das Hagengebirge in den Pinzgau zu verlegen. Die Hochspannungsmasten stellen denn auch nicht eben eine sehr ansehnliche Erscheinung in der ansonsten unberührten Natur des Hagengebirges dar. Die Leitung führt von Golling über die großzügige Angeralm, die einzige, noch intakte Almwirtschaft des Hagengebirges, bis in das hintere Blühnbachtal; ihr folgt auch der gleichnamige Leitungssteig quer über das gesamte Hochplateau. Ist dieser Leitungsstrang auch vom Gesichtspunkte des Naturliebhabers ein Gegenstand des unbedingten Mißfallens, so nimmt er doch wenigstens keinen unmittelbar schädigenden Einfluß auf den gesamten Lebensraum und gewährt immerhin eine Art von Orientierungshilfe, welche bei einbrechendem Schlechtwetter oder Nebel zuweilen von höchster Bedeutsamkeit sein kann. Die Verbundhütte kann im übrigen nicht als Biwak in Anschlag gebracht werden; vielmehr gilt sie lediglich als weiterer Kreuzweg, an welchem sich mehrere Fußpfade gabeln und wo man seine Trinkwasserreserven überdies bei Bedarf an einem an der Außenwand der Hütte befindlichen Behältnis auffrischen kann. Man hat hier die Möglichkeit, entweder nach der freundlichen Angeralm unterhalb des Grazspitzes weiterzuwandern oder dem Leitungssteig in Richtung des Hochwiessattels im zentralen Teil des Hochplateaus zu folgen; ferner kann eine Besteigung des unweit aufragenden Tristkopfes ins Auge gefaßt werden. Hierzu müßte man dem weiter aufwärts führenden Pfade folgen, um auf den leicht begehbaren Rücken des Berges zu gelangen. Wir aber verfolgen weiter den Leitungssteig nach der weiten Weidefläche der Angeralm, welche sich, eine große, weithin sichtbare Alphütte, inmitten des sanft geneigten Almfeldes erhebt. Bisweilen durchbrechen kleine Teiche und Hochmoore in regelloser Anordnung die Almgründe. Wir wollen indessen, ehe wir unseren Weg zurück ins Blüntautal nach Golling antreten, noch kurz bei einer heiteren Reminiszenz innehalten. – Einst brachten Freund R. und ich auf der nämlichen Alpe die Nacht zur Sonnenwende zu; wir waren über die Seealpe aufgestiegen und gedachten am nächsten Morgen den Scheitel des Tristkopfes zu erklimmen. Auch hatten uns einige Freunde versichert, ebenfalls noch im Verlaufe desselben Abends einzutreffen, um mit uns gemeinschaftlich die Sonnwendnacht auf der einsamen Höhe der Angeralm zu verbringen. Wir, Freund R. und ich, hatten unterdessen ein gar lustiges Feuerchen entzündet, denn die Dämmerung begann bereits die umliegenden Häupter der Berge einzuhüllen, und noch war keine Spur von der angekündigten Gesellschaft zu bemerken. Auch auf den umliegenden Gipfeln und Höhen begannen allgemach die Sonnwendfeuer aufzuflammen; die Nacht versprach außerordentlich schön und sternenklar zu werden. Da wir uns schon aller Hoffnung entblödet hatten, die Freunde möchten etwa doch noch erscheinen, vernahmen wir am Rande des Almfeldes plötzlich ein wunderliches Rascheln, ähnlich dem Blätterrauschen oder dem Knacken von Zweigen; wir horchten allsogleich auf und glaubten nun auch noch Stimmen zu hören. Im fahlen Zwielicht, welches dem Feuer entströmte, richteten wir uns auf, und im nächsten Augenblicke stand, gänzlich unverhofft, Freund Z. vor uns, der als einziger den Aufstieg noch gewagt hatte. Wir hießen ihn sogleich auf das allerherzlichste willkommen, richteten uns am Lagerfeuer gemütlich ein und verbrachten unser drei eine unvergeßliche Sonnwendnacht auf der einsamen Angeralm. Was sollten uns denn auch die andern Schwerenöter bekümmern! Später, einige Tage darnach, banden wir ihnen, gleichsam ein Actus der Vergeltung, einen gehörigen Bären auf, indem wir vorgaben, es hätten sich unverhofft einige hübsche, französische Touristinnen zu uns gesellt, welche die ganze Nacht auf das allerfröhlichste mit uns gefeiert und unaufhörlich mit uns poussiert hätten! Was eine Geschichte! Und doch – es fanden sich ihrer nicht wenige, welche diesem Märlein mehr Glauben schenkten als es recht eigentlich verdiente! Credimus, quia absurdum est – wohlan! – Am Morgen des darauffolgenden Tages erhoben wir uns von unserem Nachtlager auf der taufrischen Almwiese neben dem mittlerweile niedergebrannten Feuer und machten uns sogleich an die Ausführung des geplanten Gipfelsturmes. Über die verfallene Fillingalpe, von deren Existenz nur mehr die eingefallenen Reste des einstmaligen Gemäuers zeugten, gelangten wir endlich auf jenen breiten, von Steinen übersäten Rasenteppich, auf dem wir bequemlichen Schrittes unserem Weg zum Gipfel folgten und auf dessen Sattelhöhe sich wiederum eine (übrigens reich beschilderte) Weggabelung befindet, auf deren einem Wege man wieder zur Verbundhütte gelangt – auf einem andern nach dem abgelegenen Orte Sulzau im Salzachtale. – Nehmen wir nun also unseren Marsch von der Angeralm talwärts wieder auf. Stets längs der Stromleitung hinschreitend, gelangen wir nach einer kurzen halben Stunde zur ebenfalls längst verfallenen Grazalm. Von dort aus erreichen wir nach etwa eineinhalb Stunden Talfahrt den Eingang des Blüntautales.
Außerdem sei hier noch eines geheimen Pfades erwähnt, welcher nur unter den Autochthonen bekannt ist und welcher nur angeraten werden sollte, woferne man sich bereits im Gebiet der Jochalpen befindet; von der Bärenhütte nämlich stellt er für eine Überschreitung des Schneibsteingrates einen beachtlichen Umweg, wenn auch gleich einen höchst ergötzlichen, dar. Für gewöhnlich jedoch mag man vom Tale aus dem bedeutend näheren Schlumsteig folgen. – Wenn man bei der anmutig gelegenen Unterjochalpe das Almfeld auf geradem Wege aufwärts nach der Waldlisière überquert, so gelangt man alsbald auf einen unmarkierten, jedoch gut gangbaren Pfad. Die freundlichen Sennleute [6] der Jochalpen weisen dem unwissenden Wanderer bei Nachfrage gerne den Weg und sind auch sonst gar wohl mit allerlei Auskünften dienlich. Der Almpfad führt den Wanderer zunächst durch den Bergwald auf einen verlassenen Almboden unterhalb der schwindelerregenden Felsmauern des Schneibsteins, das Schlüml geheißen. Auch hier bezeichnet lediglich ein Haufe zerfallenen Gebälks den Standort der ehemaligen Sennhütte. Oberhalb jener Alpe bilden die zerklüfteten Wände des Berges eine Schlucht, die als der Gamskeller bekannt ist und auf deren Grund sich ein perennierendes Firnfeld befindet, das auch die zunehmende Insolation während der Sommermonate nicht zu schmelzen vermag. Durch eine schmale Felsrinne, den Kellergraben, stürzen daselbst im Frühjahre die Schneemassen der Lawinen vom Gipfel des Schneibsteins bis in jenen öden Felswinkel hinab. Nun führt der Weg, an einigen schmutzigen Lawinenresten vorbei, beständig durch lichte Nadelholzbestände unterhalb der Wände des Berges hin. Der nämliche Pfad sei allerdings nur bergerfahrenen Wanderern anempfohlen; insbesondere bei Nässe verwandeln sich einige abschüssige Wegstellen mit schrägem Geplätt und steilem Geschröf zu einer veritablen Gefahr, die keineswegs unterschätzt werden darf. Bei sicheren Verhältnissen aber ist der Pfad recht anmutig zu beschreiten und gewährt immer wieder unvergleichliche Tiefblicke in das liebliche Blüntautal wie auf die gegenüberliegenden Abstürze der Göllkette. Im Verlaufe des weiteren Weges tut man gut daran, zuweilen nach Steintauben Ausschau zu halten, die, obzwar nicht eben in großer Zahl, doch hin und wieder zur Orientierung des Wanderers aufgepflanzt sind. Endlich öffnet sich das vor uns liegende Gelände, und wir treten überraschend auf den lieblichen Almboden der Rotwandalpe, die wir indessen schon auf jener ersten unserer Wanderungen kennengelernt haben. Auch mag man bereits eher eine Rinne aufwärts verfolgen; wähnt man nun gleich die Rotwandalpe zu erreichen, so findet man sich hier plötzlich mitten auf dem luftigen Grat des Schneibsteinkammes wieder, und mit Freude mag man den ergötzlichen Ausblick auf die Hochfläche des Hagengebirges und den firnbekränzten Hochkönig begrüßen.
Ein anderer, nicht minder einsamer und reizvoller Weg auf den Tristkopf beginnt bei der großen Schottergrube in Sulzau bei der kleinen Ortschaft Tenneck. Freilich trübt jene Kiesgrube an den östlichen Abhängen des Gebirges den Anblick desselben ein wenig, und bisweilen kann einen die ewige Sucherei nach den Markierungszeichen des Weges im wunderlichen Wirrwarr des Steinbruches, welcher noch dazu je nach Maßgabe der Arbeiten seinen Verlauf ändert, schon recht verdrießen; doch bald schon hat man das Ärgernis auf beschildertem Fußpfade hinter sich gelassen und folgt dem recht steilen Pfade aufwärts durch den Wald. Immer längs des Eisgrabens hin, in dem während des Winters die Lawinen fast bis hin vor die Hütten der Schottergrube rollen, folgen wir dem Steig weiter bergan; zuweilen gestattet es das Gelände, einen Blick in den zerklüfteten Eisgraben sowie auf das sich darüber erhebende, zerrissene Gemäuer des Gebirges zu werfen. Nach etwa eineinhalb Stunden Bergfahrt erreichen wir inmitten einer verwachsenen Lichtung die verfallene Brunnalm; ein frischer Quell sorgt hier, des müden Wanderers Durst zu stillen. Auch hier bezeichnet, wie an so vielen anderen Orten des Gebirges, nur mehr ein zerfallener Kranz von Balken die einstige Sennhütte. Vom höher gelegenen Hang winkt seitwärts, etwas abseits des markierten Weges, das silbergraue Schindeldach einer Jagdhütte. Der wandermüde Bergfreund mag sich auf der freundlichen Bank des Hüttchens getrost zu einer Rast niederlassen; er wird den Ausblick auf den stillen Bergwald und die zerklüfteten Wände der Bergalblschneid wie der Riffl zu schätzen wissen. Einstmals hatte ich bereits im Frühjahre meinen Weg nach jenen einsamen Höhen gesucht und war im beständig wachsenden Schnee zuletzt bis an dieselbe Jagdhütte gelangt. Es war ein überaus schöner Frühlingstag, der Himmel gleichwie ein strahlendblauer Baldachin, und so verbrachte ich auf dem Bänkchen vor jener Hütte, von den wohltätigen Strahlen der Frühlingssonne beschienen, so manch beschauliche Stunde, ehe die hinter die Felswände sinkende Sonne mich gemahnte, wieder meinen Weg ins Tal zu suchen. – Weiter unseres Weges ziehend, treten wir nach geraumer Weile von schütterem Lärchenwald hinaus auf eine steinige Grasflur, auf welcher viele seltne Alpenblumen wie etwa das Schwarze Kohlröschen (nigritella nigra) oder die Alpenrebe (clematis alpina) gedeihen. Im Hochsommer kann man hier allgemach, wie in allen übrigen Regionen des Hagengebirges, die feuerrot blühende Alpenrose (rhododendron hirsutum) sehen. Die im Volksmund als Almrausch bekannte und vorzugsweise in den Kalkalpen vorkommende Pflanze unterscheidet der Botaniker von der rostblättrigen oder echten Alpenrose (rhododendron ferrugineum), welche vor allem in unseren Zentralalpen zu finden ist. Besonders reizend ist die Gegend, wenn zunächst noch Nebelbilder um die Zinnen der Berge wallen, um plötzlich, gleich einem Schleier, zu zerreißen und den Blick auf die mächtigen Wandstürze freizugeben. In Serpentinen schlängelt sich der Weg bis zur Paßhöhe des Hochtores hinan. Kurz zuvor treffen wir noch auf einen Felsspalt, in welchem sich allerlei Gerümpel wie Drahtseile und ähnliche Gerätschaften befindet. Hernach treten wir über den Hochtorsattel auf den breiten Rücken des Berges, wo sich die Steige von der Verbundhütte und der Fillingalpe kreuzen und ihrer etliche Schilder die Wegerichtung bezeichnen. Noch eine gute Viertelstunde, und wir stehen auf dem Gipfel des Tristkopfes. Mauersteil brechen die Wände auf der Seite des Hochplateaus zur Verbundhütte ab, und ganz unvergleichlich ist der Blick auf jene uns zu Füßen liegende, stundenweite Hochfläche des Gebirgsmassives. Im Norden haben wir beständig den zerrissenen Grat des Hohen Göll vor Augen. Unschwer ist hier selbst mit freiem Auge zu erkennen, daß die höchsten Gipfel des Hagengebirges am Südrande des Hochplateaus liegen. Nach einer gemütlichen Rast folgen wir einem nur mit Steintauben bezeichneten Pfade, welcher vom Tristkopf in den südöstlichen Grat der Tristkarschneid einleitet. Deutlich erkennt man indes die Spuren eines Pfades auf seiner Scheitelhöhe, und wo dieser zuweilen in Legföhrenbestände einmündet, haben fleißige Hände sogar eine Pfadspur ausgehauen. Der Grat ist bisweilen recht ausgesetzt, nach beiden Seiten hin steil abbrechend, doch ist das Terrain vortrefflich kupiert, sodaß der gewandte Bergwanderer ausreichenden Halt vorfindet und am Ende sich kaum eine großzügigere Gratwanderung auszudenken vermag. Nun, wiederum etwas tiefer als der Gipfel des Tristkopfes, auf einer Depression befindlich, welche den Namen Bergeralblschartl führt, welche ich gewöhnlich als Passage zu benützen pflege, wenn ich von Tenneck aus querfeldein zu jenen Gipfeln aufbreche, führt der Pfad stetig bergauf, immer hart am Rande des Felsabbruches hin. Die Bergeralblschneid gewährt eine überaus großzügige Gratbeschreitung, und unbeschreiblich sind die Ausblicke auf die auf geradem Wege gegenüberliegenden Felsabstürze des Tennengebirges. Uns zur Rechten erblicken wir nun einige sanftwellige, hügelförmige Erhebungen, welche einen bedeutenden Kulminationspunkt vorzustellen scheinen. Und in der Tat haben wir die Hochschottwiese vor uns, welche mit 2270 Metern einen der bedeutendsten Gipfel des östlichen Gebirgsteiles darstellt. Die freundlichen Höhen der Hochschottwiese laden zu einer gemütlichen Rast ein, und solchermaßen verfügen wir uns auf einem unschwierigen Wege, etwa eine knappe halbe Stunde abseits des Grates, auf ihren Gipfel, welcher zugleich einen vortrefflichen Überblick über das gesamte, umliegende Terrain gestattet. Alsdann geht es auf ohngefähr demselben Wege wieder zurück zum Grat, auf welchem wir nunmehr beharrlich in südlicher Richtung voranschreiten, unserem eigentlichen Ziele zu, jenem südöstlichsten Eckpfeiler des Gebirgsstockes, der den von Süden kommenden Wanderer als schlankes, wohlgeformtes Horn begrüßt: der Riffelkopf! Der Riffelkopf, frei und beherrschend in seiner Position, kann mit Fug als einer der schönsten Gipfel des Hagengebirges bezeichnet werden; auf dem Grate sich ihm annähernd, glaubt man schon, sein bescheidenes Gipfelsignal mit Händen greifen zu können – da tut sich unverhofft kurz vor dem Gipfel noch ein klaffender Felssturz entzwei. Mit einigem Klettergeschick wird aber auch dieses Hindernis noch überwunden, und dann stehen wir, überwältigt vom unbeschreiblichen Panoramablick, auf dem Kulminationspunkt der Riffl. Ein Blick in das unter einem Steinhaufen verborgene Gipfelbuch verrät uns, wie gar wenig besucht dieser wunderschöne Hagengebirgsgipfel ist, wiewohl er keineswegs zu den abgelegensten gehört. Gar leicht gelangt der Wandersmann von hier aus zu den Gipfeln des Hochg’schirrs, welche nur durch eine nicht allzuweite Talung, auf deren Sohle die markierte Wanderroute verläuft, auf welcher man von Tenneck aus gewöhnlich den Gipfel betritt, von der Riffl getrennt sind. Doch davon ein andermal mehr. Gerne möchte ich hier noch eine zweite Route in Anschlag bringen, welche ich einst, von Tenneck aufbrechend, in einem Anfluge von Lebensüberdruß aufs Geratewohl selbst erschloß. [Fortsetzung siehe unter "Wanderungen durch das Hagengebirge (Fortsetzung)"]

 





[1] Die Beschreitung der Scheitelhöhe des Schneibsteins vom Ostgipfel bis zum Hauptgipfel, immer hart an den Abstürzen seiner Nordwand hin, ist in der Tat von längerer Dauer, als man zunächst annehmen möchte. Ohngefähr in seiner Mitte wird der Bergscheitel von einer Scharte durchbrochen, welche uns nötigt, dieselbe in weitem Bogen zu umgehen. Dem Abstieg in eine Niederung folgt daselbst ein abermaliger Anstieg, welcher uns auf den Hauptrücken und zuletzt in gemächlicher Hangneigung zu den beiden Gipfelkreuzen am Schneibsteingipfel hinführt.       

[2] Hermann Freiherr von Barth zu Harmating entstammte einer alteingesessenen, bayerischen Aristokratenfamilie und wurde den 5. Junius des Jahres 1845 auf Schloß Eurasburg geboren. Schon früh erwachte seine Leidenschaft für die gleichsam vor dem Schloßtor liegenden Berge; nach dem Besuch des Gymnasiums wandte er sich dem Studium der Jurisprudenz zu, während welcher Zeit er sich bald als wilder Draufgänger und eifriger Fechter hervortat. Bald jedoch hatte jenes flüchtige Studentenleben jeden Reiz für ihn verloren; er bereitete sich auf den Abschluß seines Examens vor und bekleidete wenig später eine Stelle als Rechtspraktikant in Berchtesgaden. Hier, inmitten der bayerischen Bergwelt, reifte er zum Alpinisten. Sein Name wird heute vorzugsweise mit dem Werk „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ in Verbindung gebracht, das schon längst zu den berühmten Klassikern der Alpinliteratur gehört. Während der folgenden Jahre bestieg er zahllose Gipfel in allen Regionen unserer nördlichen Kalkalpen und führte auch hypsometrische und orographische Studien durch, welche wesentlich zur Erschließung dieser Gebiete beitrugen. Sein Beruf indessen gewährte ihm immer weniger Befriedigung: so entschloß er sich ‚im Bewußtsein, seinen Lebenszweck verfehlt zu haben und demselben Umstande Rechnung tragend‘ dazu, noch einmal Student zu werden und die Naturwissenschaften zu studieren. Nach erfolgter Promotion erlangte ihn die Einladung zur Teilnahme an einer Afrikaexpedition, welcher er sogleich stattgab; die Expedition wurde ein Mißerfolg. Am 7. Dezember des Jahres 1876 nahm sich Hermann von Barth in Angola, erst einundreißigjährig, im Fieberwahn durch einen Schuß ins Herz selbst das Leben.

[3] Ein anderer Weg auf den Kahlersberg führt von der Hinterbrandalpe über die Mittelstation der Jennerbahn zu den Königsbachalmen. Wir folgen demselben Wege an der alten Enzianbrennhütte vorbei in Richtung der Priesbergalmen, wo wir zunächst ans Priesberger Moos, einem überaus anmutigen Hochmoor mit wunderschönen Bergahornen, gelangen und über die Almgehänge am Priesberge schließlich in den Stiergraben einlenken. Dort geht es zwischen den Felsen beständig bergwärts den Graben hinan, bis wir an seinem Ausgange die Höhe beim Seeleinsee unterhalb des Kahlersberges erreichen; hier geht es auf dem bekannten Wege weiter zum Gipfel. Für den Abstieg indes empfiehlt sich jener unmarkierte Steig an der Flanke des Roßfeldes unterhalb des Fagsteines entlang. Zu diesem Behufe schlägt man zunächst die Richtung nach jener Hütte der Bergwacht ein, welche etwa zehn Minuten abseits des Pfades oberhalb des Seeleinsees liegt, und folgt von dort dem recht deutlich erkennbaren Pfade nach dem Roßfelde. Bei der Priesbergalpe gelangen wir auf abschüssigem Pfade wieder zurück auf den markierten Hauptweg. Derselbe Weg kann übrigens auch in gerader Richtung fortgesetzt werden. Man wendet sich hier nicht abwärts nach den Priesbergalmen, sondern folgt demselben in gerader Richtung nach der Rotspielscheibe und gelangt auf dieselbe Weise über die Königstalalm bis zum Carl-von-Stahl-Haus am Torrener Joch.    

[4] Derselbe Weg ist übrigens keineswegs so stark begangen, wie es in unseren Schilderungen den Anschein haben will. Im Vergleich zu vielen anderen Höhenwegen in unseren Alpen will er sogar als überaus wenig begangen gelten; wenn wir ihn hier als zu begangen bezeichnen, so ist dergleichen nur in Hinblick auf die Wege im Hagengebirge zu verstehen, wo man es als seltenes Glück betrachtet, überhaupt einmal einem Wanderer zu begegnen.

[5] Das Attribut „scheu“ mag hier im allgemeinen in bezug auf das Gamswild gelten. Durch die umfassende Schonung der Steinböcke während der vergangenen Jahrzehnte sind diese Tiere den Menschen so vertraut geworden, daß man zuweilen bis auf wenige Meter an sie herankömmt, ohne sie irgend in die Flucht zu schlagen; ja, ich weiß sogar von einem verbürgten Fall zu berichten, wo ein kecker Jägergesell auf der Kahlersbergalm munter zwischen den sich lagernden Tieren herumspazierte, ohne dieselben von ihrem Platze zu verscheuchen.

[6] Die Sennleute der Jochalpe sind dem Verfasser nicht unbekannt; der näheren Umgegend höchst kundig, gewähren sie dem der Auskunft bedürftigen Wanderer jederzeit gerne ihren Rat und säumen bei Bedarf auch nicht, den Wanderer gegen entsprechendes Entgelt mit Erzeugnissen aus der eigenen Almwirtschaft zu bewirten. Auch wenn es gilt, den Besuchern allerlei Kurzweil zu bieten, weiß Rupert, oder der „Schwarzei“, wie er gewöhnlich genannt wird, seinen Gästen manchen Schwank ebenso aufzutischen wie einen wackeren Bissen; auch beim Umtrunk zeigt er sich gewöhnlich keineswegs von der biederen Seite. Indes dem Herren das Amusement der Gäste angelegen ist, besorgt dessen Mutter, ein gar rüstiges, altes Weiblein, die Bewirtung der Gäste, und des Hausherrn jüngstes Töchterlein, gar lieblich anzusehn und mit Brüsten wie Dungkörbe, zieht mit ihrem Anblicke unterdes die Gäste an den Tisch.



Fortsetzung ...


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