Bereits kurz nach Mitternacht war ich irgendwann im Frühsommer des Jahres 2007 von der kleinen Ortschaft Tenneck im nördlichen Pongau nach dem Blühnbachtale aufgebrochen, um noch vor Tagesanbruch die Eckberthütte in dessen hinterster Talsohle zu erreichen; mein weiterer Pfad sollte mich dann auf die Torscharte und zuletzt weiter auf die höchsten Gipfel am Südrande des Steinernen Meeres führen. So war ich denn, mit der Taschenlampe im Gepäck, im Finstern so manch einsame Stunde vor mich hingewandert und zuletzt durch die herrschende Dunkelheit auf einen verwilderten Forstweg geraten, der mich, so wenigstens schien es mir zunächst, immer mehr abseits der von mir beabsichtigten Richtung führte. Ich hatte denselben Weg vor Jahresfrist schon einmal mit dem Fahrrade gewählt und wußte deshalb von ohngefähr, worauf ich namentlich zu achten hatte; indes bestätigte sich bei dieser Gelegenheit einmal mehr die Wahrheit jenes Proverbiums, daß in der Nacht eben alle Katzen grau seien, und umso eher mußte ich mich von der Zuverlässigkeit dieser Worte überzeugen, als ich nun auf dem Berghange immer höher zu gelangen schien und der rechterhand in der Tiefe gelegene Talgrund meinen Blicken immer mehr entschwinden wollte. Doch wußte ich, indem ich durch mannigfache Beobachtung der Umgegend mehrmals die Wegerichtung geprüft hatte, daß ich meine eigentliche Linie gleichwohl beibehalten hatte, und die endgültige Gewißheit über die Wahrheit dieser Feststellung erlangte ich, als sich, um eine Wegecke biegend, plötzlich rechts unterhalb meines gegenwärtigen Standortes in der Tiefe die Talung des Tennbodens, im fahlen Zwielichte des langsam erwachenden Tages schimmernd, vor meinen Blicken auftat. Deutlich vermochte ich inmitten des öden Gefildes den malerisch gemauerten Brückenbogen zu erkennen. Ich hatte mich also nicht getäuscht; ich brauchte nur dem nun wieder talwärts führenden Wege folgen, und ich mußte, so lautete meine Theorie, bei jener Brücke mit dem klangvollen Namen „Schönblick“ wieder auf meine ursprünglich beabsichtigte Route treffen. Genau so traf es wenig später dann auch ein, und nun war ich zu meiner nicht eben geringen Zufriedenheit wieder ganz Herr der Situation; zudem begann nun auch schon eine fahle Morgendämmerung über die Gipfel des östlichen Gebirges heraufzuziehen, sodaß, als ich wenig später die einsam gelegene Eckberthütte erreichte, das Tageslicht schon soweit eingefallen war, daß ich der Taschenlampe ohne Schwierigkeiten entraten zu können glaubte. Auf der Schwelle der Hütte hielt ich eine kurze Rast und stellte nicht ohne einiges Erstaunen fest, daß ich in den vergangenen paar Stunden das ganze Tal, und dies entgegen meiner Absicht sogar noch auf einem Umwege, entlanggewandert war; allein die Wegstrecke, welche ich bis dahin zurückgelegt hatte, mochte gewöhnlich für sich bereits eine volle Wanderung ausmachen, da die eigentliche Tour im Grunde ja noch zur Gänze vor mir lag. Aber ich hatte denn nun einmal keine andere Wahl, hätte ich mir diesen einschläfernden Talmarsch doch nach Möglichkeit selber nur allzu gerne erspart. Bei den nämlichen Betrachtungen verweilte ich, als ich, ein karges Frühmahl einnehmend, nach kurzer Zeit schon wieder meinen Tornister über die Schultern warf und dem weiterführenden Pfade folgte.
Auf einem jener zahlreichen Forstwege, welche, einem Netzwerk mit tausend Armen gleichend, auf wirren Bahnen unsere heimischen Wälder durchkreuzen [1], gelangte ich in einen von wüsten Trümmern und Schutthalden erfüllten Talkessel, „die Seichen“ genannt; bald wäre ich auf dem nur ungenügend bezeichneten Pfade ein weiteres Mal in die Irre gelaufen, hätte mich mein gesunder Instinkt nicht auf einen unmittelbar neben der Straße liegenden Baumsturz verwiesen, auf dem ein roter Markierungspunkt angebracht war; und in der Tat zweigt hier der Bohlensteig [2], seinem Wege durch schütteren Lärchenwald mit kniehohem Krautwerk, wilde Geröllschütten und ausgetrocknete Bachbette folgend, nach der Torscharte ab. Auch hier war ich bald allenthalben gezwungen, bisweilen innezuhalten und zu prüfen, ob ich mich denn noch auf dem rechten Wege befände; Markierungspunkte nahm man nur in sehr unregelmäßigen Abständen wahr, und der verwilderte Charakter des Pfades ließ denn auch kaum Zweifel darüber aufkommen, daß er wohl nur hie und da einmal von einem in diese wüste Einöde verbannten Wanderer beschritten werden mochte. Dennoch gelangte ich nach längerem Hin und Her endlich zum eigentlichen Zustieg. Die Gegend ringsherum war von ausnehmender Wildheit, über die Wipfel der Tannen klang das ferne Rauschen der Wildbäche bis in jenen abgeschiedenen Bergwinkel herein und brach sich mit eigentümlichem Brausen an den rings aufragenden Felswänden, die höchsten Zinnen der Berge erstrahlten im rosenfarbenen Frühlichte, und unzählige Bergsalamander tummelten sich entlang des Pfades; und wäre an der höhergelegenen Bergflanke nicht jene vermaledeite Hochspannungsleitung hingelaufen, welche durch ihr steriles Gepräge die Ursprünglichkeit der Landschaft leider zu einem nicht unbeträchtlichen Ausmaße zerstört – schwerlich wohl hätte man sich eine einsamere und wildere Gegend vorstellen können. Ich versuchte also, die Hochspannungsleitung zu ignorieren, so gut es eben gehen wollte, und bemerkte an jener Stelle, wo der Pfad in die Felsen mündete, eine von den Unbilden der Witterung zerbeulte Signaltafel, welche auf die mannigfaltigen Gefahren eines Weitermarsches hinzuweisen sich anschickte: des Weges würde nicht mehr gewartet, stand dort zu lesen, auch bestünde ‚akute Absturzgefahr‘. Ich ließ mich in meinen Absichten dadurch keineswegs irremachen, bemühte mich aber gleichwohl, jene gewiß nicht grundlos angebrachte Warnung nicht zu unterschätzen – wie denn wohl auch manch unrühmlicher Vorfall in den Bergen von der sträflichen Unterschätzung solch wohlmeinender Hinweise zeugen mag!
Und in der Tat war auf dem vom Morgentaue nassen Untergrund mancherorts allerhöchste Vorsicht geboten; überdies waren an besonders bedenklichen Stellen immer wieder Stahlseile, Eisenstifte und ähnliche Kletterhilfen fixiert, deren Zuverlässigkeit zu überprüfen ich mir im Interesse meiner eigenen Sicherheit wohl angelegen sein ließ. Erst, wenn ich eine Einrichtung dieser Art selbst als für tauglich befunden hatte, überließ ich mich ihrem Schutze ohne Bedenken. Auf diese Weise gewann ich in dem felsigen Gelände, das überdies im oberen Bereiche merklich an Wildheit verlor, immer mehr an Höhe; schon befand ich mich auf gleicher Höhe mit den Hochspannungsmasten, welche vom jenseits des Talgrundes aufragenden Hagengebirge die ganze Breite der Bergflanke durchschnitten und auf der Höhe der Torscharte, deren zerklüftete Felsen, vom ersten Gluthauch der Morgenröte überstrahlt, schon recht heiter auf den einsamen Wanderer herniederblickten, zuletzt wieder in die Täler des Oberpinzgaues hinabführten. Eben war ich im Begriffe, ein Almrosengebüsch am Rande des Weges zu durchqueren, als es daselbst mit einem Male laut zu rascheln begann, und bereits im allernächsten Augenblicke strich ein Schneehuhn mit kräftigem Flügelschlag über die nahen Felsen davon. Von der unverhofften Begegnung noch ganz erschrocken, sah ich nun zu meiner Überraschung etwa fünf, sechs niedliche Küken zu meinen Füßen piepsend nach allen Richtungen auseinanderstieben; ich war auf dem Pfade unversehens an den Brutplatz, der just auf dem Wege liegen mochte, geraten und hatte so wider meinen Willen das Brutgeschäft der Henne gestört. Mit raschen Schritten eilte ich daher bergwärts, damit das durch mein plötzliches Auftauchen abgestrichene Schneehuhn zurückkehren und seine kleinen Schutzbefohlenen wieder unter seine Fittiche sammeln möge. Auch hatte ich auf der Höhe des Berges bereits einige Gemsen ausgemacht, welche nun recht stolz und unnahbar auf mich armen Tropf herniedersahen; und da bedachte ich denn wohl, wie ich nichts weiter denn ein Gast in ihrem Reviere war, ich empfand, wie gar anmutig und behende jene stolzen Alpenbewohner sich in ihrem gewohnten Elemente zu bewegen wissen, und wie ich, ein Mensch, der Wildheit und Rauhheit jenes Lebensraumes ungewohnt, ihnen wohl als ein Eindringling gelten mußte! Ich war mir dieser Tatsache wohl bewußt, und sooft ich in den Bergen einem Tiere begegne, bedenke ich wohl, daß es die älteren und vor allem angestammteren Rechte hat als ich und versuche, mich eben so zu verhalten, daß es mich für ein Weilchen als Gast in seinem Königreiche dulden möge.
Nun sah ich von meiner gewonnenen Felswarte schon recht frei über die Hochfläche des jenseitigen Hagengebirges hinweg, und nur noch eine unwesentliche Strecke Weges schien mich von meinem vorläufigen Ziele zu trennen. Schließlich trat ich auf den sanft begrünten, von steinigen Rasen durchsetzten Sattel der Hohen Torscharte hervor, und sogleich eröffnete sich ein neuer Horizont meinem Auge: gleich neben mir, hüben wie drüben die steilen Wandstürze des Hochkönigs wie des Steinernen Meeres, vom ersten Golde der Frühsonne überhaucht, und jenseits der fruchtbaren Fluren des Pinzgaues, wo in der Ferne der Zeller See blaut, steilen sich über grünen Matten und einsamen Tälern die gletscherbedeckten Gipfel der Tauern empor, aus deren eisigem Reigen ganz besonders keck das kühne Wiesbachhorn sowie der stolze Großglockner hervorstechen. Weiter gen Westen wölben sich die von der Morgensonne schimmernden Gletscherflächen des Venedigers zu einem Firndom von einzigartiger Schönheit empor, während in den Tälern zu seinen Füßen noch tiefe Schattenbilder woben. Ich richtete mich recht behaglich ein, glaubte ich doch, nun endgültig eine etwas ausgedehntere Rast verdient zu haben. Ich lehnte mich mit dem Rücken an jene Steinpyramide, welche man dort oben als Signal aufgepflanzt hatte, und genoß bei einer Stärkung jenen unvergleichlichen Ausblick, der sich nun meinen Blicken erschloß. Da ich geraume Zeit auf jener einsamen Höhe verweilt hatte, beschloß ich, meinen Marsch nach dem Steinernen Meere fortzusetzen; die Wetterauspizien für den weiteren Tagesverlauf waren höchst ungewiß, und gewiß lag es mir ferne, mich durch unangebrachte Saumseligkeit selbst um die harten Früchte meiner bisherigen Bemühungen zu prellen. Mit einem Blick auf die nahen, stark gebänderten Südabstürze des Steinernen Meeres glaubte ich zu erkennen, daß mein Weg nun wohl ein nicht mehr allzu langer sein würde; indes der folgende Weitermarsch sollte mich bald genug über den sträflichen Irrtum dieser meiner Annahme belehren!
Ich nahm also den gewohnten Schritt wieder auf und sah nun schon recht nahe vor mir ein Felsengebilde, steil nach dem Urschlauer Tale abstürzend, welches ich zunächst noch als das von mir ins Auge gefaßte Wildalmkirchl ansah; der dahinter liegende, mächtige Klotz mit seinen rotgebänderten Felsen mußte demnach das Selbhorn sein, so meinte ich zunächst. Da ich mich aber jenem Felsengebilde mehr und mehr nähere und währenddessen auch so manch prüfenden Blick auf die nahe Gipfelkette des östlichen Steinernen Meeres, wo das Reißhorn, die Hundsschädel, das Alpriedelhorn aufragen, geworfen hatte, ward ich schnell gewahr, daß jener von mir ins Auge gefaßte Gipfel das Wildalmkirchl nicht wohl sein könne; erstens hatte ich im Vergleich mit den letzteren noch eindeutig viel zu wenig an Höhe gewonnen, und zweitens, wo wäre dann das Brandhorn geblieben, das als mächtiger Berg ja noch dazwischen liegen mußte? Und da ich nun abermals einen zweifelnden Blick auf meine Karte warf, erkannte ich sehr schnell den betrüglichen Irrtum, dem ich erlegen war: in einem unerklärlichen Anfalle geistiger Verblendung hatte ich die relativ unbedeutende Felszinne des Marterl bereits für das Wildalmkirchl und das mächtige Brandhorn gleich dahinter für das Selbhorn angesehen, denn in der Tat ähneln die beiden zuletzt genannten Gipfel den ersteren sowohl in Gestalt als auch der Lage nach in verblüffender Weise. Alleine der Wunsch, ich möchte nach dem nun schon beträchtliche Stunden währenden Marsche bald mein Ziel erreicht haben, mochte solche Wahnbilder in mir entzündet haben. Durch das kleine Korrektiv vermittelst der mitgeführten Karte sowie meiner Vernunft kam ich sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es lag also noch eine ziemlich weite Strecke Weges vor mir: ich mußte zunächst das Brandhorn erklimmen und anschließend, wieder abkletternd, das jenseits davon gelegene und meinen Blicken noch unsichtbare Wildalmkirchl zu gewinnen suchen! Mit dieser meinem Wunsche zwar weniger gemäßen, nichtsdestoweniger korrekteren Erkenntnis ausgestattet, setzte ich meinen Marsch fort.
Es währte noch etwa eine knappe Stunde, als ich endlich, am mittleren Vormittage, den Scheitel des Brandhornes für mich gewann. Um keine kostbare Zeit zu vergeuden, beschloß ich, mich nur ganz kurz auf demselben zu verweilen; ich kritzelte also nur meinen Namen ins Gipfelbuch und trat sogleich den Abstieg nach dem jenseits des klobigen Berges gelegenen Mittagschartls an. Obzwar der vorangegangene, schneearme Winter auch den Bergen nur ein Geringes von jener weißen Pracht beschert hatte, fanden sich aufgrund der frühen Jahreszeit noch alle Schrunden und Vertiefungen im Gestein von Firnlagern ausgefüllt, die ich nun immer häufiger zu durchqueren hatte; besonders in den nordseitigen Karen hält sich der Schnee für gewöhnlich länger als anderswo, und so benutzte ich manche jener Stellen, um schneller vorwärts zu kommen und auf diese Weise meine Wege zu verkürzen. Nach längerem Fußmarsche hatte ich die einsam gelegene, im Hexagon erbaute Biwakschachtel am Nordfuß der berühmten Wildalmer Kirche erreicht – jenes Gipfels, der namentlich von Norden auf charakteristische Weise das Bild des Steinernen Meeres prägt. Sogar von der Stadt, dem lebefrohen Salzburg, wo das Berchtesgadener Tal zwischen den wuchtigen Felsklötzen des Hohen Göll und des Untersberges eine freie Sicht auf die dahinter liegende Bergwelt gestattet, ist jene markante Felsgestalt, die ihrer Form nach unwillkürlich an eine Kirche erinnert, in der Ferne zu sehen. Schon lange war es daher mein sehnlichster Wunsch gewesen, einmal den Scheitel jenes Berges zu erklimmen, zu dessen felsiger Höhe all meine Gedanken emporschweiften, sooft ich im hektischen Getriebe des Stadtlebens ein mir unliebsames Geschäft zu besorgen hatte; und heute, so Gott will, sollte die Stunde gekommen sein, jenen lange gehegten Plan endlich in Ausführung zu bringen. Ich taxierte deshalb den noch gut hundertzwanzig Meter über mir aufragenden Turm des Gipfels nach den Schwierigkeiten, welche ich daselbst gewärtigen mochte, kam aber nachgerade zur Überzeugung, daß ich ihn mit einigem kletterischen Geschicke wohl zu erreichen vermöchte. Ich legte daher die kurze Felsrippe bis zum steil aus der Hochfläche aufragenden Gipfeldache zurück und begann alsobald, in die Nordflanke des Berges einzusteigen.
Der Fels zeigte sich allenthalben gut gangbar, doch tat man wohl daran, gelegentlich einen Blick nach oben zu werfen, um die rechte Linie nicht aus den Augen zu verlieren. Nach zwanzig Minuten luftiger Kletterei etwa mochte ich das „Dach“ der Kirche erreicht haben, welches ich nun auf schmalem Grate entlangbalancierte, um auch noch den „Turm“ zu erklimmen, auf dessen steiler Spitze mir das Gipfelkreuz entgegenstrahlte. Mauersteil, mit teils überhängenden, gelb- und rotfarbenen Wandfluchten bricht das Kirchl im Süden nach dem Urschlauer Tale ab, wo das kleine Dörfchen von Hintertal sich beinahe ängstlich in den engen Talwinkel zwischen den himmelhohen Mauerschlüften des Hochkönigs und des Steinernen Meeres schmiegt. Alle Häuser und sogar die Kirche inmitten des Dorfes lagen nun wie Spielzeug gleichsam zu meinen Füßen – stand ich doch wahrhaft auf einer viel größeren, nicht von Menschenhand, sondern von Gott selbst erbauten Kirche, welche einst aus dem Chaos der Schöpfung hervorgegangen und dort nun für alle Zeiten versteinert war, um auf ewig von der Größe und Allmacht ihres Schöpfers zu künden. Unterdessen hatte ich den Turmfuß erreicht, der sich noch etwa zwanzig, vielleicht dreißig Meter über dem Dach des „Kirchenschiffes“ aufsteilt. Ich begann die kurze Gratkletterei, und bald stand ich, von der Vormittagsonne überglänzt, auf dem Kulminationspunkt der Wildalmer Kirche. Und gerade, als ob mich nun umgekehrte Gedanken übermannt hätten, so blickte ich weit nach Norden und sah tatsächlich die Feste Hohensalzburg mit dem ihr zu Füßen liegenden Häusermeer der Stadt in der Ferne vor mir daliegen! Doch wie gar anders waren meine Gedanken, wie verschieden von jenen, welche gewöhnlich in der fernen Stadt sich meiner zu bemächtigen pflegen und auf den Schwingen meines Geistes mich emporheben zu jener blauen Ferne, zu der kein Pfad emporführt, und wo kein Pegasus mir erscheint, der auf flüchtigem Fittich zu ihr mich gleichsam emporgetragen hätte. Nun aber stund ich auf jener Höhe und gedachte der Menschen in der fernen Stadt, die im selben Augenblicke wohl kaum meiner gedachten oder daran, wie schön es doch wäre, auf jener Höhe zu verweilen! Doch sei’s drum, mag das Leben dort immerhin seinen gewohnten Gang gehen wie seit jeher – es sollte mich wenig bekümmern! Hier endlich ließ ich mich auf meiner erhabenen Warte zu einer längeren Rast herbei, und erst als ich, gegen Mittag, die Zeit für gekommen hielt, raffte ich mein Gepäck zusammen und trat den Rückzug an.
Nach einer halben Stunde hatte ich wieder die Biwakschachtel erreicht, von welcher aus ich mich abwärts wandte und überlegte, wie ich denn nun weiter vorgehen solle; mein anfänglicher Irrtum über die Lage des Gipfels hatte mich weit in die Einöde des kahlen Hochplateaus entführt und mich von jedem bewohnten Gebiete, ja sogar von jedem Stützpunkte so weit entfernt, sodaß ich, wie die Dinge nun einmal lagen, in jedem Falle schwerlich am selben Tage wieder ins Tal zurückgelangt wäre. Zudem konnte es kaum Wunder nehmen, daß sich nach dem bisher zurückgelegten Marsche nun doch allmählich eine gewisse Müdigkeit in den Beinen fühlbar machte, wenn ich meiner sonstigen Verfassung nach einen solchen Marsch noch durchaus zu bewältigen imstande gewesen wäre. Indessen verlangte meine Situation nach einer Entscheidung, und vor Antritt der Wanderung bereits hatte ich jenen Gedanken in Anschlag gebracht, je nach Lage der Dinge eine Nacht in der Biwakschachtel zu verbringen; indes die Uhr zeigte noch kaum gegen Mittag, und Gott allein weiß, wie ich mir die Zeit bis zum nächsten Morgen um die Ohren geschlagen hätte, wo mich zu allem Überflusse noch ein langer Talmarsch erwartet hätte. Ich verwarf diesen Plan deshalb ziemlich rasch und überlegte, welches Ziel von meinem gegenwärtigen Standorte, fernab jeglicher Zivilisation, wohl das am nächsten gelegene sei, das ich zu erreichen imstande wäre, ohne mich auf eine wahrhafte Odyssee einzulassen! Und bald war da ein Entschluß in mir gereift, der da hieß: auf zum Riemannhaus! Ich mußte darauf sinnen, das in der Ramseider Scharte gelegene Riemannhaus zu erreichen! Beim gleich darauffolgenden Blick auf meine Karte mußte ich mit einem ungläubigen Kopfschütteln feststellen, daß ich nach Abschluß des mir noch bevorstehenden Marsches die ganze Karte der Länge nach würde durchwandert haben und das Riemannhaus sich gar nicht mehr auf derselben befand! Abermals mußte ich ob der Verrücktheit meines Ansinnens den Kopf schütteln; aber immerhin kannte ich ja den weiteren Verlauf des Weges und würde mir allenfalls auch ohne Karte leidlich zu helfen wissen!
Nun ging’s hinab in ein weites, schneegefülltes Kar hinein, sodaß die blauen Schattenwände des Wildalmkirchls und sogar die Biwakschachtel im Rücken zu seinen Füßen bald weit über mir standen. Alsdann ging’s weiter in beständigem Vorwärtsschreiten, hügelauf, hügelab, heiß brannte die Sonne von einem tiefblauen Himmel, der nur gelegentlich durch kleinere, unbedenkliche Wolkenhäufchen getrübt ward. Ich entledige mich eines Teiles meiner Gewandung und beschließe in Rücksicht auf die Temperaturen, meinen Marsch mit bloßem Oberkörper fortzusetzen. Nachdem ich wiederum geraume Zeit in dem weitläuftigen Karste fortgeschritten war, erkannte ich in dem langgestreckten Bergrücken zu meiner Linken den Selbhorngrat, der seine Ausläufer weit nach Norden entsendet und dort mit den höchsten Gipfeln der Funtenseetauern zuletzt eine zusammenhängende Kammlinie bildet. Inmitten dieses Kammes senkt sich der Berg zu einer Scharte mit dem Namen Hochbrunnsulzen, wo der Pfad die Gratlinie gleichsam an günstiger Stelle überwindet und jenseits davon in die weite Hochfläche nördlich der mächtig aufragenden Schönfeldspitze mündet. Ich aber sah gegenwärtig nur den Kamm, und sogar jenen noch in beträchtlicher Entfernung aufragen, sodaß ich noch lange nicht daran denken konnte, das Riemannhaus zu erreichen. Dennoch kam ich im Vorwärtsschreiten der Hochbrunnsulzen beständig näher, und schon vermochte ich auf ihrem Scheitelpunkt eine schiefe Signalstange zu gewahren, welche den Wanderer auch bei tiefem Schnee noch sicher zu seinem Ziele geleiten mochte! Nachdem ich endlich unter mancherlei Mühen jene Höhe für mich gewonnen hatte, eröffnete sich jenseits derselben wiederum eine schier endlos erscheinende Steinwüste meinen Blicken. Indes war nun gleichwohl die steile Felsenpyramide der Schönfeldspitze über dem Selbhorngrat emporgetaucht, welche nun immerhin einen verlässigen Orientierungspunkt inmitten jener Felsenwildnis bezeichnete. Ich wußte, daß ich dieselbe an ihrem Nordfuß, wo sich im Schatten der Wände ein weites Firnfeld ausdehnt, zu umschreiten und meinen Weg alsdann in südlicher Richtung fortzusetzen hatte, beabsichtigte ich das Riemannhaus auf direktem Wege zu erreichen. Ich wählte also auf der Hochbrunnsulzen, die einen Kreuzweg vorstellt, jenen Pfad, welcher geradewegs nach dem schlanken Horn der Schönfeldspitze hinführt und überließ mich demselben bedenkenlos. Fehlgehen konnte ich nun ja doch nicht mehr, vielmehr drängte sich mir allmählich die Frage auf, ob meine Füße, die sich nun bereits mit beständig wachsenden Schmerzen, namentlich in den Knien, bemerklich machen wollten, über kurz oder lang in den Streik treten würden. Aber was half’s am Ende; ich hatte mich auf diesen Parforcemarsch, vermutlich den längsten, den ich jemals unternommen hatte, nun einmal eingelassen, und mußte ihn nun wohl oder übel zu Ende bringen, wollte ich die bevorstehende Nacht nicht irgendwo, ein Häuflein Elend, am Wegesrande zubringen. Ich bot also nochmals meine ganzen Kräfte auf und strebte der Schönfeldspitze entgegen, welche ihr majestätisches Horn in den bayerisch weiß-blauen Himmel erhub. Als ich den Berg endlich nach ermüdendem Marsche auf seiner Nordseite umgangen hatte, zeigte sich mir in der Ferne endlich der langersehnte Anblick der Ramseider Scharte, hüben flankiert vom keck über den Rand der Hochebene emporstrebenden Sommerstein, der sich kühn über den First des Riemannhauses erhebt, drüben das wohlgeformte, anmutige Breithorn, welches als südwestlicher Eckpfeiler des Steinernen Meeres als König über das weite Tal der Saalach gleichsam gebietet und die Gegend bis zum anmutig gelegenen Städtchen Zell am See zu Füßen des eisbedeckten Kitzsteinhorns überblickt. Nun konnte ich den Schmerz in meinen Kniegelenken nicht mehr länger ignorieren, und es begann jeder Schritt, den ich in dem felsigen Terrain zu unternehmen bestrebt war, nachgerade zu einer mehr oder weniger großen Tortur zu werden. Ich begann mir angesichts solch beweiskräftiger Argumente einzugestehen, daß ich die Entfernungen auf dieser Wanderung bei weitem unterschätzt hatte! Doch leider half nun eben alles Eingeständnis nichts mehr! Alles demütigen Eingestehens ungeachtet schmerzten die Beine, und ich mußte mir endlich sagen, daß eine solch unmäßige Beanspruchung des menschlichen Bewegungsapparates nun ganz und gar nicht vernünftig und noch weniger gesund sein könne. Ich schwor bei mir selbst, meine Wanderungen künftig nach dem Gesichtspunkte der Vernunft auszuwählen, denn unmöglich konnte ich wollen, daß meine Kniegelenke mit Fünfzig bankerott seien. Unter derartigen Versicherungen und Gelübden, die ich ein paar Stunden später wohl schon wieder vergessen haben mochte, näherte ich mich, wenn auch gleich bedächtigeren Schrittes als noch am Morgen, gleichwohl meinem erwählten point de repos. Immer weiter trat nun die Schönfeldspitze zu meiner Linken zurück, tauchten der Sommerstein und das Breithorn in das heitere Azur des Firmamentes empor, aus dem die Wölkchen sich nachgerade immer mehr zu verflüchtigen begannen. Mit schmerzenden Beinen kämpfte ich mich vorwärts, schon vermochte ich die Stimmen einiger Ausflügler zu vernehmen, welche sich rings um das Riemannhaus ergingen und sich etwas weiter von demselben entfernt zu haben schienen. Gleichwohl schien es mir fast wie eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich den Sommerstein passiert und die letzten Meter zur breiten Veranda des Gebäudes zurückgelegt hatte. Unmöglich hätte ich hier die Nacht zugebracht, hätten mich die außerordentlichen Umstände, in die ich nun wider Willen geraten war, nicht förmlich dazu gezwungen. Für gewöhnlich wäre ein geübter Wanderer in zwei Stunden nach Maria Alm und in etwas mehr als zwei nach Saalfelden gelangt; ich aber war nicht mehr willens, auch nur einen einzigen Schritt zu gehen. So ließ ich mich denn endlich auf der sonnigten Terrasse nieder, stellte zu meiner nicht geringen Verwunderung fest, daß es gleichwohl erst halb drei Uhr nachmittags war, begehrte einen Trunk oder wohl auch deren zwei und harrte aus, bis die Sonne bei nunmehr wolkenlosem Himmel hinter die nahen Felstürme des Breithorns versank und ein leuchtender Abendhimmel sich über die schimmernden Bergspitzen hindehnte. In der Ferne sah man die Gletscher des Ankogels und der Hochalmspitze im letzten Abglanze des Tagesgestirns über den schattigen Tälern leuchten, in denen unterdessen der letzte Sonnenstrahl verglüht war, und auf geradem Wege zu unseren Füßen begannen die Lichter von Maria Alm langsam in der Dämmerung aufzublitzen. Unterdessen hatten sich zwei deutsche Landsmänner an meinen Tisch begeben, deren einer ein ganz angenehmer Zeitgenosse, der andere allerdings ein reichlicher Schwätzer und Prahlhans zu sein schien, ein Umstand, der mich schließlich dazu nötigte, mein Nachtlager, welches ich vorhin bei einem hübschen jungen Dinge in der Schankstube bestellt hatte, aufzusuchen. Ich beschloß, mich um vier Uhr morgens zu erheben und nach einem für mich eigens bereitgestellten Frückstücke, das ich der frühen Stunde halber bereits am Abende bezahlt hatte, an die Talfahrt zu machen.
Um vier Uhr morgens war ich denn tatsächlich bereits auf den Beinen, die übrigen Gäste lagen noch in tiefem Schlummer, nur ein Herr von der Armee verließ ebenfalls zu jener frühen Stunde schon sein Quartier. Nach dem Frühstück wanderte ich in der Morgendämmerung los; über Nacht hatte sich der Himmel leicht bewölkt, dergestalt, daß sogar ein feiner Nieselregen einfiel, als ich mich soeben anschickte, die in den Fels gehauenen Stufen unterhalb des turmhoch darüber aufragenden Sommersteins talwärts zu klimmen. Die Füße taten mir vom Vortag noch ordentlich weh, und ich beschloß deshalb, nur langsam auszuschreiten; gleichwohl hatte ich bereits um sieben Uhr morgens jene Anhöhe oberhalb des kleinen, reizvollen Städtchens Saalfelden erreicht, wo der Pfad mich alsbald nahe an jener Eremitage am Palfen vorbei und endlich nach Saalfelden selbst hineinführte. Mein Glücksstern wollte es, daß ich geradewegs an einen Bus hinlief, der zu dieser frühen Stunde noch vorzugsweise mit Schulkindern gefüllt war, unter welchen mir namentlich ein hübsches Mägdlein von strohlblondem Haar und lieblich knospendem Busen in lebhafter Erinnerung geblieben ist, und ohne mich noch ferner zu besinnen, sprang ich denn auf und ließ mich gegen ein geringes Entgelt zum Bahnhof chauffieren. Dort fand meine zweitägige Bergfahrt im Angesichte der mächtigen, von der Morgensonne bestrahlten Gipfel der Leoganger Steinberge schließlich ein glückliches Ende. Doch meine Blicke schweiften dem jüngst Erlebten bereits voraus, die grünen Täler entlang bis zum Zeller See, wo das Kitzsteinhorn sein glänzendes Silberhaupt in den strahlenden Morgenhimmel erhob und mich in jener frühen Stunde glauben machte, es gebe nirgendwo auf Erden einen schöneren Platz als an den Gestaden des Zeller Sees, in dessen Fluten sich die vom Morgenrot bestrahlten Häupter der Berge spiegeln.
[1] Der Verfasser spielt mit dieser Metapher auf die gar leichtfertige Art und Weise an, in der von den zuständigen Behörden gewöhnlich Bewilligungen zum Bau von Weganlagen für land- und forstwirtschaftliche Zwecke erteilt werden. Jedes Bäuerlein, das irgendwo im Walde zwei, drei Klafter wurmstichigen Holzes besitzt und einen entsprechenden Antrag stellt, erhält die Bewilligung, sich mittels Bagger und Schubraupe einen Weg dahin bahnen zu lassen, damit er in den Stand gesetzt werde, die paar morschen Prügel bequem per Traktor abzutransportieren. Überflüssig zu erwähnen, daß zu diesem Behufe häufig nicht unbedeutende Mittel aus öffentlichen Ressourcen lukriert werden, abgesehen vom Umstand, daß diese Wege hernach oftmals kaum mehr gebraucht werden und das Landschaftsbild wenigstens aus der Vogelperspektive auf gar abscheuliche Weise beeinträchtigen.
[2] Dieser Pfad erhielt seinen Namen von den einstigen Besitzern des Jagdschlosses Blühnbach, der Familie Krupp von Bohlen und Halbach. Mit dem Namen Krupp verbindet man heute allgemein jene mächtige Stahldynastie, die, 1811 von Friedrich Krupp begründet, sich später zur größten Gußstahlfabrik der Erde entwickelte und maßgeblich an der deutschen Rüstungsindustrie während der beiden Weltkriege beteiligt war. Anfang des 20. Jhdts. wurde den Patriarchen des Hauses der Name Krupp von Bohlen und Halbach verliehen. Im Jahre 1916 erwarb Gustav Krupp das Schloß Blühnbach, das sich bis 1988 im Familienbesitz befand. Mit dem Tode des "Letzten Krupp", Arndt von Bohlen und Halbach, starb die männliche Linie aus. Er liegt in der Schloßkapelle des Jagdschlosses Blühnbach begraben.
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